Kaltes Herz
seinem Geld ist er durch einen gemeinen Diebstahl gekommen, selbst die Identität des Bestohlenen ist bekannt: Brauereimeister Gustav Faust. Doch damit nicht genug, Frau Keller. Ich bin heute Zeuge einer Szene geworden, deren Details ich Ihnen aus einem grundlegenden Anstandsgefühl heraus verschweigen muss. Nur so viel: Henriettes Unschuld ist ernstlich in Gefahr. Sie wissen, wozu solcher Leichtsinn im Fall Ihrer Schwester geführt hat. Ich sehe die einzige Lösung darin, Henriette dem Einfluss dieses Mannes zu entziehen: Schicken Sie sie aufs Land zu Ihrer Schwester. Sobald wie möglich! Ich werde dort ein Auge auf sie haben und mich ihr angemessen und mit Anstand nähern.
Charlie las den Brief ein zweites Mal und schüttelte verwirrt den Kopf.
«Vielleicht ist mein Deutsch nicht so gut, wie ich glauben möchte, Herr Professor Altheim, doch bisher entdecke ich nichts, was ich nicht schon durch eigene Beobachtung oder durch Ihre Mitteilung wüsste.»
«Lesen Sie nur weiter, Junge», sagte Altheim mit einem verschmitzten Lächeln.
Natürlich hat Johanne keine Raison mehr, Ihnen Geld zukommen zu lassen, wenn sie selbst sich um ihre Tochter kümmern muss. Sie werden jedoch weiterhin ein gutes, wenn auch etwas angemesseneres Auskommen haben, Sie werden lediglich in eine kleinere Wohnung umziehen. Ein Vorteil von Henriettes Anwesenheit bei Ihrer leiblichen Mutter wird sein, dass Johanne sich unseren Wünschen fügen wird, und die bestehen letzten Endes in Henriettes Wohlergehen. Sie werden Henriette alsbald zu Ihrer Schwester begleiten und sie dort zurücklassen, während ich mich um alles Weitere kümmere. Die Alternative, zu der ich mich ansonsten gezwungen sähe, kennen Sie, und es würde mir sehr leidtun, wenn Sie als alleinstehende Frau plötzlich ganz ohne Einkommen dastünden.
Mit zitternden Fingern entfaltete Charlie den letzten Brief. Wenn jetzt nicht die entscheidende Information kam, würde er an seinem Verstand zu zweifeln beginnen.
… ich danke Ihnen sehr für die Informationen, die Sie mir zukommen ließen. Ja, auch ich habe bemerkt, dass Jackson nach Henriette sucht. Das Beste wird sein, Sie ziehen alsbald in Ihr neues Quartier und vernichten auch unsere Korrespondenz. Ich bin mit meinen Vorbereitungen fast am Ende. In naher Zukunft werden wir beide gemeinsam zu Ihrer Schwester fahren, klare Verhältnisse schaffen, und dann werde ich Henriette mit mir nehmen. Nur noch ein wenig Geduld.
Ihr Prof. Dr. Felix Regenmacher
Charlie starrte den letzten Brief an.
«Ich fürchte, ich verstehe immer noch nicht», sagte er zu Professor Altheim. «Hier steht nichts drin, was wir nicht schon geahnt oder gewusst haben. Ada Keller wird erpresst, Regenmacher will Hetti heiraten, und wir erfahren leider rein gar nichts über Hettis Aufenthaltsort.»
Altheim nickte.
«Richtig. Aber Sie haben ja den letzten Brief noch nicht gelesen.»
«Welchen letzten Brief?»
Charlie blätterte den kleinen Papierstapel noch einmal durch, entdeckte aber nichts, was er nicht bereits gelesen hätte.
«Willem, darf ich bitten?»
Der Junge wirkte zufrieden wie eine satte Katze.
«Meinen Sie den Brief, den ich dem Postboten aus der Tasche gezupft habe, als er bei Frau Keller geklingelt hat?»
«Ich denke, den meine ich.»
«Also den, den Frau Keller überhaupt gar nicht zu Gesicht bekommen hat?»
«Ja, der muss es wohl sein.»
«Ach so, der», sagte Willem und zog gemächlich einen weiteren Brief aus seiner Hosentasche, einen zerknitterten Zettel, den er entfaltete und Charlie reichte. Er war in einer krakeligen Kinderschrift geschrieben. Altheim lachte über Charlies Gesichtsausdruck.
«Du hast einen Brief geklaut?»
«Ja», sagte Willem gedehnt und grinste.
«Respekt», sagte Charlie und starrte auf die schiefen Buchstaben.
«Der ist von Frau Kellers Schwester», sagte Willem stolz.
«Ich habe den Jungen angewiesen, das Original abzuschreiben», erklärte Altheim.
«Dabei kann ich gar nicht schreiben.»
«Aber so lernst du es.»
«Lesen Sie», sagte Willem, «na los!»
Charlie blickte in Altheims nun ernstes Gesicht. Er nickte.
Teure Schwester,
ich schrieb Dir bereits, das Mädchen muss fort, Heinrich ist außer sich. Aber da ist noch etwas, das ich Dir mitteilen muss. Es gibt hier jemanden, der ein Auge auf Henriette geworfen hat, ich konnte es nicht verhindern, obwohl ich es versucht habe. Er machte nur Andeutungen bisher, aber an seinen Blicken habe ich gesehen, was er empfindet. Ada, sie könnte jeden Mann
Weitere Kostenlose Bücher