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Kaltes Herz

Kaltes Herz

Titel: Kaltes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Freise
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holperten sie nun über Kopfsteinpflaster, Henriette hätte schreien müssen, um weitere Fragen zu stellen. Sie hätte gerne geschrien wegen all der Versäumnisse, aber ihre Stimme ließ es nicht zu. Schreien war ebenso Gift wie Flüstern, beides raute die Stimmbänder zusätzlich auf, und wenn sie je wieder singen wollte, sollte sie in den nächsten Wochen den Mund ohnehin besser geschlossen halten. Vielleicht sollte sie trotzdem schreien. Vielleicht spielte es überhaupt keine Rolle, ob sie jeder wieder singen würde. Ihr Herz war gebrochen, und ihre Mutter schickte sie fort, zu Fremden. Fast fühlte es sich an, als ob ihre Mutter die Fremde sei, mit ihrer neuen Strenge und Distanz. Wo waren die zärtlichen Umarmungen, das Wohlwollen, an das Henriette so sehr gewöhnt war? Wer war diese Frau, die ihren Blicken auswich und plötzlich mit militärischer Strenge regierte, wo sie doch sonst immer sanft, nachgiebig gewesen war? Was wusste sie eigentlich über ihre Mutter, was wusste sie über ihr Leben? Nichts. Sie hatte ja nicht einmal gewusst, dass sie eine Tante und Cousinen hatte.
    Einige Minuten später erreichte die Kutsche Gramstett. Sie folgten der Hauptstraße, Henriette sah ein Postamt, einen Schusterladen, den kleinen Uhrturm auf dem Rathaus, ein paar Stände mit Waren des täglichen Bedarfs, und dann schien der Ort auch schon wieder zu Ende zu sein. Gramstett kam ihr eher vor wie ein Dorf als wie eine Stadt. Ob es hier ein Theater gab? Oder ein Opernhaus? Sie bogen in eine Ausfallstraße ein, die Häuser waren hier nur noch eingeschossig, hörten plötzlich ganz auf. Die Pflasterstraße führte weiter unter dem schweren Himmel in ein finsteres Waldstück hinein.
    «Wohnen die Pflogs denn gar nicht in der Stadt?»
    Bisher war es Henriette beinahe gleichgültig gewesen, wo sie fortan ihre Tage verbringen sollte, wenn Charlie nicht Teil ihres Lebens sein konnte, doch jetzt machte sich Nervosität bemerkbar. Der Wald kam ihr unheimlich vor.
    «Am Stadtrand», sagte ihre Mutter beruhigend, doch auch ihr Gesicht drückte Unbehagen aus.
    Wie würde es sein? Würde sie Charlie dort vergessen? Sie konnte es sich nicht vorstellen. Unter all der Weltläufigkeit war etwas Trauriges an ihm. Wenn er tatsächlich ein Straßenjunge gewesen war, so verlassen, war es da ein Wunder, wenn sein Leben nicht geradlinig verlief? Er versucht doch nur, dem Leben etwas Freude abzutrotzen, dachte Henriette. Warum hatte er ihr nicht vertraut? Warum hatte sie ihm nicht vertraut?
    Der Wald öffnete sich auf ein freies Feld, und vor ihnen tauchte endlich das Gehöft der Pflogs auf, ein grauer Feldsteinbau, zwei Stockwerke hoch. Von ferne kam Henriette das Haus fast wie eine Burg vor mit seinen winzigen Fenstern.
    Links schloss sich eine übermannshohe Mauer an das Haupthaus an, und dahinter konnte Henriette die Giebel von zwei großen Backsteinscheunen erkennen. Es gab ein Tor in der Mauer, grün gestrichen, die Torflügel weit geöffnet. Dahinter war es dunkel.
    Der Wagen passierte das Tor, rumpelte durch eine überdachte Einfahrt, die mehr als zehn Meter lang sein musste. Was von außen wie die Hofmauer ausgesehen hatte, war selbst ein Haus, vielleicht ein Stall oder eine Remise.
    Als die Kutsche endlich in den Hof klapperte, sah Henriette, dass das Haupthaus rechtwinklig gebaut war, sodass der Hof von allen Seiten umschlossen war. Es war beinahe wie in Berlin, der Horizont endete immer beim nächsten Haus. Und auch hier sah alles nass aus, die Mauern und der einzelne Baum in der entferntesten Ecke des Hofes, vielleicht eine Magnolie, aber das war schwer zu sagen, denn er hatte noch immer keine Blätter, obwohl der Mai schon weit fortgeschritten war. Neben der Toreinfahrt lag an einer langen Kette ein struppiger Hund und blinzelte müde zur Kutsche herüber. Und überall flatterten weiße Laken und Bezüge auf Wäscheleinen. Sie waren das Einzige, was dem mit Steinplatten ausgelegten Hof ein wenig Licht und Leben verlieh.
    «Mutter, ich muss dir etwas sagen», sagte Henriette hastig. Sie hatte es verschweigen wollen, doch nun musste sie sich beeilen, bevor sich vielleicht keine Gelegenheit mehr ergab, alleine mit ihrer Mutter zu sprechen.
    «Charlie Jackson hat mich beschützt. Ein Fremder, ein asiatisch aussehender Mann, hat mich verfolgt. Er war in jeder Vorstellung, er hat mir auf der Straße aufgelauert, ist mir gefolgt.»
    Ada Keller unterbrach sie heftig.
    «Kind, was redest du denn da!»
    «Ich habe dir nichts davon gesagt, um

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