Kaltes Herz
dich nicht zu beunruhigen.»
«Das ist Unsinn. Hörst du? Unsinn! Das war wieder nur ein Trick von diesem Jackson. Er hat dir etwas eingeredet, um dich gefügig zu machen.»
Mutters Tonfall duldete keinen Widerspruch, und sie schien genau zu wissen, wovon sie sprach.
«Dann kennst du diesen Mann?»
«Henriette, es gibt keinen solchen Mann. Das phantasierst du nur.»
Die Kutsche kam zum Stehen, das Rumpeln und Klappern erstarb.
«Mutter, ich habe ihn gesehen. Ich habe gesehen, wie er aus unserem Haus kam.»
Ada Keller antwortete nicht. Sie schien zu lauschen, und auch Henriette spürte etwas in der plötzlichen Stille. Es war eine Art Zittern, als ob die Erde bebte, ganz leicht nur, aber dennoch deutlich wahrnehmbar, und unter dem Zittern schien ein Grollen zu liegen, das an- und wieder abschwoll, an und wieder ab.
«Komm jetzt», sagte Ada Keller knapp.
Plötzlich wirkte auch sie nervös, wie sie nach ihrer Tasche griff und sich den Hut zurechtrückte. Henriette stieg hinter ihr aus, und fast im selben Moment öffnete sich im Haupthaus eine Seitentür.
Eine hochgewachsene, füllige Frau erschien in der Tür, dunkles Haar, helle Haut. Das musste Tante Johanne sein. Ada hatte gesagt, sie sei früher eine Schönheit gewesen, aber auf Henriette wirkte sie vor allem streng und erschöpft. Steile Falten zogen sich von ihren Nasenflügeln zu den Mundwinkeln hinab, auf dem Kopf trug sie eine gestärkte Haube und als Brosche ein goldenes Kreuz.
Jetzt erhob sich auch der Hund, kam an seiner rasselnden Kette herüber, ein drohendes Knurren in der Kehle, das sich nahtlos in das subtile Grollen unter Henriettes Füßen einfügte. Sie konnte es spüren, es drang durch die dünnen Sohlen ihrer Stadtschuhe.
«Was willst du denn hier?», fragte Tante Johanne barsch.
Sie war auf der oberen von zwei Stufen stehen geblieben, wischte sich die Hände an einer überaus weißen Schürze ab und starrte zu Henriette und ihrer Mutter herüber.
«Johanne», sagte Ada und ging mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.
Der Hund ließ erneut ein Knurren hören. Henriette streckte dem Tier eine Hand entgegen, ließ es daran schnuppern, das kam ihr sicherer vor, als Tante Johannes Blick zu begegnen.
«Ich bringe dir deine Nichte. Sie muss raus aus der Stadt, braucht Landluft. Eine Verordnung des Arztes.»
Henriette blickte erstaunt auf. Das war eine Lüge. Sie hatte überhaupt keinen Arzt konsultiert. In ihrem ganzen Leben war das noch niemals notwendig gewesen.
«Wir sind kein Landkurheim.»
«Es ist nur für ein paar Wochen.»
«Ich habe keinen Platz für ein verwöhntes Stadtmädchen, das im Weg rumsteht, während meine Töchter arbeiten.»
«Johanne, ich bitte dich darum. Ich habe dir doch von jenem Mann geschrieben.»
«Und warum, denkst du, sollte mich diese unmoralische Geschichten interessieren? Was habe ich damit zu schaffen?»
Ada Keller fiel in einen für Henriette neuen, bitterkalten Tonfall. Sie hatte ihn zum ersten Mal vernommen, als sie ihr von Charlie erzählt hatte.
«Es sollte dich interessieren.»
«Mutter, ich kann doch auch woanders …»
«Du schuldest mir etwas, Johanne.»
Johanne antwortete nicht.
Ada Keller wandte sich zu Henriette um, zupfte die Schleife an ihrem Kragen zurecht und steckte ihr ein letztes Mal die Haare zurück, die ihr ins Gesicht gefallen waren.
«Hast du deine Tasche? Gut, Liebes. Ich werde jetzt fahren. Ich schreibe dir.»
Plötzlich fühlte Henriette sich wie gelähmt. Ihre Mutter würde sie einfach so mit dieser mürrischen Fremden zurücklassen, in einem Haus in Alleinlage, eine Stunde Fußmarsch entfernt vom nächsten Ort und wer weiß wie weit fort von zu Hause.
Ada Keller drückte Henriette kurz an sich, dann drehte sie sich um, kletterte hastig in die Kutsche. Henriette hatte kein einziges Wort des Abschieds herausgebracht. Der Kutscher schnalzte, die Pferde zogen an, die Kutsche wendete in dem engen Kreis, den die im zunehmenden Wind flatternde Wäsche ihm ließ, und rumpelte durch die Toreinfahrt davon.
Zurück blieb eine Stille, die durch das rhythmische Beben unter Henriettes Füßen noch verstärkt zu werden schien. Der Hund stand neben ihr, schmiegte seinen alten grauen Kopf in ihre Handfläche und leckte ihr die Finger.
«Komm schon», sagte Tante Johanne. «Und Füße abtreten.»
Henriettes Reisetasche hing ihr schwer am Arm, doch sie wagte nicht, sie ohne Erlaubnis auf den schwarz-weiß gefliesten Boden zu stellen. Die Diele sah aus wie ein
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