Kaltes Herz
gefühlt, dass Leben mehr war, als die Einsamkeit aus sich hinauszusingen. Sie hatte nie Freundinnen gehabt, nie andere Menschen um sich herum außer Lehrer und Kollegen. Sicher, sie hatte Spaß mit ihnen, sie lernte viel. Sie hatte gelernt, seit sie klein war. Sie hatte auf der Bühne gestanden, seit sie ein Kind war. Charlie war der Erste, mit dem sie einfach Zeit verbracht hatte, um Spaß zu haben. Wie sehr hatte sie sich gefreut, als er gesagt hatte, er habe seine Violine nicht mit nach Berlin gebracht. Sie brauchte nicht noch jemanden, mit dem sie proben und arbeiten konnte. Sie brauchte einen Menschen. Der sie berührte, der …
«Henriette», sagte ihre Mutter und strich ihr über den Kopf. «Hör auf zu weinen. In ein paar Wochen denkst du gar nicht mehr an ihn. Sieh es als Abenteuer.»
Henriette schluckte und nickte mit geschlossenen Augen. Abenteuer in einer Wäscherei. Mit fünf fremden Cousinen, fremder Schmutzwäsche und Seifenlauge, mit einer fremden Tante und einem kranken Onkel, über den man nicht sprach. Ein Gehöft am Rande einer Kleinstadt. Eine Weißwäscherei. Ein Abenteuer. Ohne Charlie. Ob man in Gramstett bei der Arbeit sang?
«Deine Tante ist eine gute Frau, du wirst sie mögen. Und sie dich.» Mutter seufzte. «Johanne war immer die Schönheit in der Familie, weißt du. Sie hatte früher viele Verehrer.»
Henriette tat, als hörte sie zu, nickte, schluckte weitere Tränen hinunter, lächelte, bis ihre Wangen schmerzten. Nur ließ es sich irgendwann nicht länger zurückhalten. Sie schlug die Hände vors Gesicht, ließ den Tränen freien Lauf, während der Wagen sie durchschüttelte wie eine Rupfenpuppe.
Mutters Stimme klang mit einem Mal hart. «Es ist genug, Henriette. Du weißt doch gar nicht, was Liebe ist. Dazu bist du viel zu jung. Irgendwann, vielleicht schon bald, lernst du einen richtigen Mann kennen, jemanden, den du respektieren kannst.»
«Aber ich habe ihn geliebt!» Henriette erschrak selbst vor ihrer Heftigkeit und dem Schmerz in ihrem wunden Hals. «Ich liebe ihn», setzte sie leiser hinzu. «Ich verstehe es selbst nicht, aber es ist so. Trotz allem.»
«Flausen!», schimpfte Ada Keller. «Mach nicht diesen Fehler, Kind, du weißt gar nicht, wohin das ein anständiges Mädchen führen kann.»
«Hast du meinen Vater geliebt?»
«Wie kannst du so etwas fragen!»
«Hast du?»
«Natürlich!»
«Warum haben wir keine Bilder von ihm, warum nichts von dem, was er geliebt oder getragen hat, keine Bücher, keine Kleidung, keinen einzigen seiner ach so vielen Orden, nicht einmal ein paar Manschettenknöpfe? Manchmal denke ich, ich habe gar keinen Vater gehabt.»
«Henriette!»
«Darf ich denn das nicht sagen?»
Ada Keller blickte auf ihre Hände. Im Gegensatz zu Henriettes großen Händen waren sie klein, die Finger kurz und rund.
«Manchmal ist es besser, einen entschlossenen Schnitt zu machen. Man sollte die Vergangenheit hinter sich lassen. Und neu anfangen, wenn das Leben es verlangt.»
«Ist es nicht genau das, was Charlie Jackson versucht hat? Er ist aus London nach Berlin gekommen, um neu anzufangen.»
Ada Keller strich Henriette eine Haarsträhne aus der Stirn, eine Locke, die ihr immer wieder vor das rechte Auge fiel, egal wie gründlich sie ihre Haarnadeln feststeckte.
«Ein Dieb und ein Lügner. Vielleicht war er in London schon zu bekannt. Vielleicht ist er deshalb nach Berlin gekommen. Wenn du das neu anfangen nennen willst …»
Henriette antwortete nicht.
«Dein Mister Jackson ist kein Umgang. Das musst du doch selbst einsehen.»
Und wenn er mir die Wahrheit gesagt hätte?, dachte Henriette. Hätte das einen Unterschied gemacht? Die Kutsche ging in eine Linkskurve, und sie stützte sich mit den Händen auf dem Lederpolster ab.
«Wann werden wir ankommen?»
«Ich weiß es nicht, Liebes. Ich fahre selbst zum ersten Mal hin.»
«Warum erst jetzt?»
Ada Keller zuckte die Achseln
«Es gibt keinen besonderen Grund. Es hat sich einfach nie ergeben. Und Heinrich verträgt keine Aufregung. Wir haben einander häufig geschrieben, Johanne und ich. Und manchmal ist sie in Berlin, wenn sie Besorgungen zu machen hat oder Geldgeschäfte.»
«Aber warum habe ich sie nie gesehen?»
«Es hat sich eben nicht ergeben, Kind. Wahrscheinlich war es einfach so, dass du gerade immer Proben oder Unterricht hattest.»
Nach der Linkskurve kam eine Rechtskurve, und dann veränderte sich das Geräusch der Wagenräder, von einer zerfahrenen, schlammigen Straße
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