Kaltes Herz
besorgt eine Hand auf ihre Stirn.
«Mutter, ich glaube, Hetti hat Fieber», sagte sie.
Ihre Stimme schien seltsam weit weg zu sein.
«Ihr Name ist Henriette. Und ob Fieber oder nicht, das Vorrecht zu beten sollte sie sich nicht entgehen lassen. Sich in die Seligkeit des Herrn zu erheben wird ihr helfen, gesund zu bleiben.»
Henriette senkte den Kopf, faltete die Hände und wartete, während Tante Johannes Stimme in ihren Kopf tropfte wie Wasser aus einem undichten Hahn. Sie wollte den Hahn abstellen, das Geräusch tat weh, sie brauchte Stille. Sie musste in Ruhe darüber nachdenken, wie sie wieder nach Hause kam.
Endlich, nach einer Ewigkeit, zog Ida sie mit sich nach nebenan in eine Essstube, in der Brot, Butter, Schinken und Pfefferminztee bereitstanden. Das Essen verlief in vollkommenem Schweigen, die Mädchen aßen mechanisch und viel nach der harten Arbeit.
Nur Henriette brachte keinen Bissen herunter, es gelang ihr kaum, den Mund weit genug zu öffnen, um ein Stückchen Brot hineinzuschieben, und das Schlucken tat schrecklich weh.
Sie blickte auf ihren Teller, auf ihre Hände, die groß und weiß danebenlagen. Dann fiel ihr auf, dass sie die Musik nicht mehr hörte. Die Musik, die normalerweise in allen Dingen lag, die in und unter der Welt war, die immer da war, so wie die Maschinenmusik der Waschautomaten, aber weniger aufdringlich. Henriette lauschte, doch da war nichts, und die Leere, die sie empfand, war beängstigend. Seit wann hatte sie die Musik nicht gehört?
Als sie mit Charlie auf dem Rummel gewesen war, als sie sich geküsst hatten, da war sie da gewesen, sie hatte fast schmerzhaft in ihren Ohren gedröhnt, so laut wie nie zuvor. Sie war auch noch da gewesen, als er sie nach Hause gebracht hatte. Sie war da gewesen, als Mutter ihr Dinge über Charlie gesagt hatte, die sie nicht wissen wollte. Sie hatte einfach der Musik in Mutters Worten gelauscht statt ihrem Sinn.
Wieso bemerkte sie erst jetzt das Fehlen der Musik, jetzt, wo das Zittern und Grollen unter ihren Füßen die Musik der Welt ersetzt zu haben schien? Wieso sprach niemand? Wieso hörte sie nicht einmal die Messer auf den Tellern klappern? War sie denn plötzlich taub geworden?
Henriette schloss die Augen. Glitt davon. Suchte ihren Ort hoch oben unter dem schwarzen Himmel zwischen den schneebedeckten Bergen. Vielleicht würde Charlie dort auf sie warten. Charlie Jackson, bist du hier …?
«Hetti. Hetti!»
Ida rüttelte an ihrer Schulter.
Henriette war auf ihrem Stuhl zusammengesunken, kurz davor einzuschlafen.
«Komm, ich bringe dich jetzt rauf.»
Tante Johanne und ihre Töchter waren bereits aufgestanden, hatten abgeräumt, Henriette hörte sie nebenan in der Küche mit dem Abwasch klappern. Sie wollte nur noch ins Bett, wollte sich zwischen Decken und Kissen und Laken verkriechen.
Sie schaffte es aus der Essstube hinaus bis in die Diele, bevor Schwindel sie überfiel und sie sich an der grünen Tür mit der schrillen Klingel darüber abstützen musste. Wann hatte das Klingeln eigentlich aufgehört? Die Tür gab nach, beinahe wäre sie in den dunklen Flur dahinter gestürzt, doch Ida erwischte ihren Arm und stützte sie.
«Hetti! Komm schon.»
Das Schwarz hinter der Tür schien Henriette anzuziehen, sie meinte einen Herzschlag dort zu spüren, gleichmäßig und kraftvoll. Es war dieser Rhythmus, in dem das ganze Haus bebte, dieser merkwürdige Rhythmus, so getragen, so gelassen, dass er müde machte, eine ganz leichtsinnige Müdigkeit, aus der man gar nicht mehr aufwachen mochte.
«Wieso ist die Tür denn offen?», fragte Ida ärgerlich.
«Was ist dort?», brachte Henriette mühsam hervor.
«Vaters Arbeitsräume, da haben wir Mädchen nichts verloren. Da dürfen nur Mutter und Professor Regenmacher rein. Sie muss wohl vergessen haben, die Tür zu verschließen. Komm jetzt. Komm!»
Nur widerwillig wandte Henriette sich von der Schwärze hinter der Tür ab. Warum war es dunkel, wenn dort Arbeitsräume lagen? Wer arbeitete denn im Dunkeln?
Der Weg zu den Schlafkammern im ersten Stock kam Henriette sehr weit vor, und als sie endlich ankamen, ließ sie sich erleichtert aufs Bett fallen, während Ida ihr die Schuhe auszog.
«Also wirklich, du kommst hier an, und das Erste, was dir einfällt, ist, krank zu werden.»
«Ich brauche Landluft», murmelte Henriette.
«Und sicher hat der Arzt auch gesagt, du sollst in nassen Kleidern stundenlang auf dem kalten Boden hocken, ja?»
Obwohl Henriettes Kopf schrecklich wehtat,
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