Kaltes Herz
dazu doch viel zu schöne Augen.»
Charlie entzog sich ihrem intensiven Blick, wandte ihr den Rücken zu und streifte sich die Hose und das frische Hemd über, die sie ihm aufs Bett gelegt hatte. Er drehte sich um, um Frau Liese zu danken und sie zu bitten, jetzt zu gehen.
«Mirabelle», sagte sie, «vom letzten Jahr.» Sie hielt ihm ein gefülltes Glas hin. «Damit Sie auf andere Gedanken kommen.»
Beinahe musste Charlie lachen. Frau Liese trank also bereits am Vormittag. Das warf ein ganz anderes Licht auf diese rechtschaffene, ewig um ihn herumputzende Hausfrau.
Sollte er sich jetzt etwa gemeinsam mit seiner Wirtin volllaufen lassen, seinen Kummer ersäufen? Charlie trank normalerweise nichts Stärkeres als Bier. Tageslicht fing sich in der goldfarbenen Flüssigkeit in dem Glas, das sie ihm hinhielt.
Zaubertrank, dachte Charlie, so hatte sein Vater seinen billigen Gin oder Brandy genannt. Er hielt sich für verflucht und glaubte, dass der Zaubertrank ihn am Leben hielt. Jedoch wirkte er immer nur für ein paar Stunden, und dann brauchte er eine weitere Dosis, um nicht unterzugehen. Charlie hatte sich vorgenommen, niemals so zu werden wie er, so melodramatisch und rührselig und voll unvermittelt hochkochender Wut, die sich dann in Schlägen gegen einen Sohn entlud, der gerade seine Mutter verloren hatte. Dennoch, heute verstand Charlie zum ersten Mal, warum sein Vater keinen anderen Ausweg gesehen hatte. Es gab nun einmal Dinge, über die konnte man einfach nicht hinwegkommen. Charlie nahm das Glas, stieß mit seiner Wirtin an und probierte. Es war eher Likör als Wein. Er trank aus und ließ sich nachschenken.
«Sie müssen auf andere Gedanken kommen», sagte Frau Liese, nachdem sie auch das zweite Glas gelehrt hatten.
Sie trat einen Schritt näher an ihn heran. Charlie verstand.
Im Grunde hatte er schon vorher verstanden, er hatte es nur nicht verstehen wollen. Er musste nur die Hand ausstrecken, um die Fülle ihres Busens unter dem Stoff ihrer Bluse zu fühlen.
Frau Liese lächelte, stellte ihr Glas auf den Tisch und öffnete die Knöpfe. Ihr Busen war weich, aber immer noch frisch, ihre Hände waren warm, und Charlie wollte sich dem Verlangen überlassen, einem Verlangen, das im Grunde nicht dieser Frau galt, und das wusste sie natürlich ebenso gut wie er.
Und dann war er wieder da, ihr Name, und mit ihrem Namen ihr Gesicht, die hundert Faden tiefen Augen, Schwarz in Schwarz, eine dunkle Locke über der rechten Hälfte ihres Gesichts, der Ausdruck traurig, und doch war da auch die Andeutung eines Lächelns auf ihren Lippen, die ihr jene Aura von uralter Weisheit verlieh. Frau Liese öffnete seine Hose und ließ sich vor ihm auf die Knie nieder.
«Jetzt will ich mal sehen, ob du dich ordentlich gewaschen hast», sagte sie rau.
Charlie blickte auf ihren Haarschopf hinab, vergrub die Hände darin, als sie den Mund öffnete und ihn zu befriedigen begann.
Die Haare waren blond, einige graue Strähnen waren bereits darin. Frau Lieses Scheitel erschien ihm unnatürlich blass, und ihr Mund, eben noch begehrenswert, war plötzlich nur noch eine nasse, schmatzende Höhle, in der Charlie sich lieber nicht verlieren wollte. Er wollte einfach nicht. Er zog Frau Liese auf die Füße, schloss seine Hose.
Dann setzte er sich auf die Bettkante und sah auf seine Hände, die auf seinen Oberschenkeln lagen und ihm ebenfalls unnatürlich weiß vorkamen, weiß wie Papier, weiß wie die erbleichten Hautstellen des Negerkönigs, der Hettis Mitleid erregt hatte. Sie waren kalt wie Eis.
Charlie wollte es Frau Liese nicht einmal erklären. Er wollte keinen Likör, keine Liebesdienste. Er wollte keine Hilfe und keine Ablenkung. Er wollte Hetti.
Frau Liese setzte sich neben ihn und tätschelte tröstend seine Hand.
«Nicht so schlimm, Junge, nicht so schlimm. Dann ist es wohl die große Liebe?»
«Ja.»
«Und sie liebt Sie nicht?»
«Doch, sie liebt mich. Ich weiß es. Aber ich habe sie verraten und von mir gestoßen.»
«Selbst schuld und voller Reue?»
Charlie nickte.
Frau Liese knöpfte ihre Bluse wieder zu.
«Dann verstehe ich noch weniger, warum Sie hier sitzen und Trübsal blasen. Holen Sie sie zurück!»
«Sie zurückholen?»
«Ja, was denn sonst!»
Plötzlich schoss ein Schrecken heiß durch Charlies Glieder.
Sie hatte recht, verdammt, sie hatte ja recht! Wie konnte er hier herumliegen, wenn Hetti auf der Welt war? Sie war nicht gestorben, sie lebte! Man hatte sie ihm weggerissen, und mit jeder Minute,
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