Kaltes Herz
rückwärtigen Wand des Saals, «erwartet uns Ihr Onkel.»
Heinrich hatte ihnen den Rücken zugekehrt. Henriette wollte nicht zu ihm hingehen, zu deutlich war ihr das grausam entstellte Gesicht in Erinnerung, zu lebendig war der Schrecken noch. Dann dachte sie an das, was sie Charlie in der Betstube versprochen hatte. Dass sie ihr Herz erweitern wollte, mutig sein. Er ist mein Onkel, und er leidet. Wann könnte ich die Stärke meines Herzens besser beweisen als jetzt?
Entschlossen schritt Henriette durch den Saal, um ihrem Onkel gegenüberzutreten. Als sie auf wenige Schritte herangekommen war, hob er die Hand. Sie verstand die Geste und blieb stehen.
Wie hatte er sie in all dem Lärm kommen gehört? Henriette betrachtet Onkel Heinrich aufmerksam, seinen breiten Rücken, leicht gebeugt, den grünen Samt seines Hausmantels, der im Lampenschein schimmerte, irgendwie kam dieser Rücken ihr vertraut vor, ohne dass sie hätte sagen können, woher. Ihr Blick wanderte weiter zu dem mit Papieren überladenen Tisch, an dem er saß, zur Wand dahinter, übersät mit Plänen und Graphen und technischen Zeichnungen, und in all dem Gewirre sah sie zwei helle Augen, die sie aufmerksam betrachteten. Henriette erkannte die Augen, sie hatte sie erst an diesem Morgen zum ersten Mal gesehen. Sie schienen sie direkt aus der Wand heraus anzublicken, doch dann erkannte Henriette, dass dort ein Spiegel hing, durch den Onkel Heinrich den Raum hinter sich beobachten konnte. Regenmacher legte Heinrich eine Hand auf die Schulter.
Heinrich nahm ein Stück Papier, tauchte eine Feder ins Fass, schrieb und reichte das Papier Regenmacher.
«Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich möchte Ihnen nur ein paar Fragen stellen», las dieser vor.
«Ich bin bereit, deine Fragen zu beantworten, Onkel. Wirst du mir im Gegenzug auch meine Fragen beantworten?»
Henriette musste gegen den Lärm anschreien.
Heinrich schrieb erneut.
«Regenmacher wird dich über alles informieren, was du wissen möchtest,
Nichte
.»
Regenmacher betonte das letzte Wort mit unverkennbarer Ironie.
In den Sekundenpausen, wenn die Walze der Maschine sich auf ihren Rückweg von der einen Seite der Plattform auf die andere vorbereitete, war es beinahe still im Saal, und Henriette hörte das Rasseln, wenn ihr Onkel atmete, hörte das Ticken einer Uhr, das Kratzen von Heinrichs Feder, und sie spürte den harten, festen Schlag ihres eigenen Herzens, schneller als das Herz der Maschine, das mit der Gemächlichkeit und Gewalt eines Riesen zu arbeiten schien.
«Sag mir, Henriette Keller, wer ist deine Mutter, wer dein Vater? Was weißt du sonst über deine Familie?»
Henriette passte sich dem Rhythmus der Maschine an und setzte ihre Worte so, dass sie in die Pausen zwischen den Schlägen fielen.
«Meine Mutter ist … ist Ada Keller … meinen Vater … habe ich nicht … kennengelernt. … Er starb als ich … ein Säugling war. … Sein Name war … Generalmajor … Friedrich Keller. Er starb bei ei… bei einem Duell … bei dem es um … die Ehre seiner … Ehefrau ging.»
Henriette fand auf eine merkwürdige Art Gefallen daran, so zu sprechen. Man könnte es zu einer Kunst erheben, dachte sie, einer Kunst, die Worte aus den gewohnten Zusammenhängen riss, ihnen so vielleicht ganz neuen Sinn gab. Es war wie singen, nur dass es auf Rhythmus statt auf Melodie basierte.
«Meine Großeltern … habe ich ebenfalls nie … kennengelernt … und von den Pflogs … weiß ich erst … seit ich hier ankam. … Warum fragst du das … Onkel?»
Nachdem Henriette geendet hatte, schrieb Heinrich.
«Ich werde mich jetzt umdrehen, um dein Gesicht richtig sehen zu können. Bitte versuche, nicht wegzusehen», las Regenmacher und fügte hinzu: «Heinrich, der Mundschutz.»
Heinrich nickte, und griff nach einem schwarzen Tuch, das über seiner Armlehne hing, und band es sich um die untere Hälfte seines Gesichts, wo Nase und Mund hätten sein sollen.
Als er sich umdrehte, wusste Henriette plötzlich, warum sein Rücken ihr so bekannt vorgekommen war.
«Du bist der Mann aus dem Wald!», entfuhr es ihr.
Heinrich nickte und blickte Henriette an.
Ein unbeschreiblicher Kummer lag in seinem Blick, und Henriette fühlte, wie die Trauer auf sie übergriff und Tränen über ihre Wangen liefen.
«Lass mich dein Gesicht sehen», bat sie, ohne zu wissen, warum sie das wollte. Es würde ihr Albträume bescheren. Dennoch fühlte sie die Verpflichtung, die Wahrheit zu sehen, sie anzuerkennen und mit
Weitere Kostenlose Bücher