Kaltes Herz
ihr zu leben. Sie brauchte Mut und ein starkes Herz für das Leben, das sie noch vor sich hatte.
Heinrich zögerte, und Henriette wartete. Schließlich nickte er und nahm das Tuch ab, und Henriette hielt stand, betrachtete das wilde Fleisch, die in alle Richtungen ragenden Zähne, das grausige Loch dort, wo ein Kinn hätte sein sollen, sie sah die Tränen, die Heinrich aus den Augen liefen, sich ihren Weg über zerfurchte Narben suchten und ihm auf die verstümmelten Hände tropften, die er ihr entgegengestreckt hielt wie ein Junge, den man aufgefordert hatte zu zeigen, ob er sie auch gründlich gewaschen hatte.
Henriette trat auf Heinrich zu, zog ein sauberes Taschentuch aus der Tasche des Morgenrocks und gab es ihm.
«Tut es sehr weh?», fragte sie in der Pause zwischen zwei Maschinenphasen. Sie sprach leise, doch er konnte ihre Lippen lesen. Heinrich nickte. Obwohl sein Gesicht keine Mimik besaß, schien es Henriette, als ob er lächeln wollte. Dann band er das Tuch wieder vor sein Gesicht und schrieb.
«Bevor du hier heruntergekommen bist, hatte ich mir vorgenommen, dich zu töten. Aber dein Herz ist gut, und du bist schön. Ich danke dir, dass du gekommen bist», las Regenmacher über den Lärm der Maschine hinweg.
«Heinrich!», entfuhr es ihm dann.
«Warum wolltest du mich töten?»
«Weil es eine Lüge ist», las Regenmacher und sagte dann, an Heinrich gewandt: «Glaubst du mir nun, was auch ich glaube? Glaubst du jetzt, worüber wir sprachen?»
Heinrichs Nicken war kaum wahrzunehmen, so knapp und schwach fiel es aus, doch es war da, und Henriette hatte es gesehen.
«Was für eine … Lüge? Wovon ist … hier die Rede?»
Niemand antwortete Henriette.
«Sie haben … versprochen, dass … Sie meine Fragen … beantworten … Professor!»
«Das werde ich», antwortete Regenmacher. «Wenn wir aus diesem Lärm hier heraus sind.» Dann wandte er sich wieder an Heinrich. «Alter Freund, soll ich diese Sache hier für uns alle zu Ende bringen?»
Erneut nickte Heinrich.
«Dann warte auf mein Zeichen.»
Damit drehte Regenmacher sich um und schritt auf die Saaltür zu, und Henriette folgte ihm halb laufend, um mit ihm mithalten zu können.
Ida war wach geworden, weil sie Stimmen gehört hatte.
«Bitte warten Sie draußen. Ich verspreche, dass ich kommen werde.»
Hetti. Und ihr Professor. Sie hatten Geheimnisse, etwas ging vor, und Ida wollte wissen, was es war.
Sobald Hetti angezogen und aus dem Zimmer war, war auch sie aufgestanden und den beiden gefolgt. Zuerst war es leicht gewesen, sie schlossen die Tür zum Westflügel nicht hinter sich ab, es war dunkel, und der Lärm aus dem Keller erübrigte fast jede Vorsicht.
Als der Professor Licht gemacht hatte, war Ida hinter dem Vorhang zurückgeblieben und hatte gewartet. Der Lärm schwoll an, als sich eine Tür öffnete, nahm dann wieder ab, als sie sich schloss. Erst dann war Ida weitergegangen.
Der risikoreichste Moment war der, als sie vor der Tür gestanden hatte und nur raten konnte, ob dahinter ein Raum oder ein weiterer Gang war, ob die Luft rein war oder ob jemand in dem Moment, wenn sie sich entschloss, die Tür zu öffnen, in ihre Richtung blicken würde. Doch wenn sie wissen wollte, was vor sich ging und warum Hetti ihren Vater sehen durfte, während sie selbst dieses Vorrecht nicht ein einziges Mal genossen hatte, dann blieb ihr nichts anderes übrig, als die Tür einen Spaltbreit zu öffnen. Und zwar möglichst bevor irgendjemand wieder herauskam und sie im Nachthemd hier stehen und bibbern sah. Ida fasste sich ein Herz. Der Lärm, der ihr entgegenschlug, war schier überwältigend.
Sie hatte Glück, Hetti und der Professor drehten ihr den Rücken zu, und als Regenmacher auf die Wand am anderen Ende des Saals wies, erkannte sie den so lange und schmerzlich vermissten Rücken ihres Vaters. Er saß dort, wie ein ganz normaler Mann, an einem Tisch. Von Krankheit oder Gebrechen war nichts zu sehen, und Ida fragte sich, warum er ihr all die Jahre vorenthalten worden war. Wieso hatte er seine Kinder verlassen, während er im selben Haus mit ihnen lebte? Am liebsten wäre Ida in diesem Moment einfach zu ihm gelaufen, hätte die Arme um ihn geschlungen. Sie wollte wieder wie als Siebenjährige auf seinem Schoß sitzen und Multiplikationsreihen mit ihm lernen, wollte wieder seinen Vatergeruch in der Nase haben. Ida öffnete die Tür gerade weit genug, um hindurchzuschlüpfen. Dann verschwand sie schnell im Schatten der Maschine, die
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