Kaltgeschminkt (German Edition)
Ausdauer. Wenig später trage ich meine Angebetete die enge Wendeltreppe nach oben in ein kleines Schlafzimmer und versuche nicht zu schwer zu schnaufen. Nicht, dass sie viel wiegt, aber am besten versuchen Sie es einmal selbst, eine Frau mit endlosen Beinen die gnadenlosen Windungen einer schmalen Wendeltreppe empor zu hieven.
Sie kuschelt sich in die Decken, hält meine Hand fest in ihrer. »Harris, ich möchte dir noch etwas sagen. Über James.«
James, das ewige Rätsel und der blinde Spiegel. Langsam lasse ich mich auf der Bettkante nieder.
»James tut Dinge, die bei den Dreien nicht unbedingt gern gesehen sind. Kennst du die Geschichte, dass ein Toter ein Stück seiner Seele verliert, wenn man ihn nach seinem Ableben fotografiert?«
Ich nicke misstrauisch. Ein Ammenmärchen, das ich einmal auf einer Beerdigung gehört habe. Irgendetwas sollte mir genau jetzt dazu einfallen.
»Es ist wahr, mein Herz. Und da liegt das Problem. James liebt es zu fotografieren.«
Mir wird eiskalt. Wie konnte ich nur so desinteressiert sein!
»Die Drei teilen nicht, nicht einmal ein bisschen.«
Der Schleier lichtet sich. Diese Theorie der Seelensplittung ist eine grundlegende Regelung unter den Bestattern. Sie fotografieren niemals selbst die Aufgebahrten, sondern überlassen diesen Teil den Angehörigen. Üblicherweise machen nur die wenigsten Familien von dieser Geschmacklosigkeit Gebrauch.
»Eine fotografierte Leiche ist unvollständig«, rufe ich mir in Erinnerung. Zu dumm, wenn man die internen Gerüchte in der Schule als Lügenmärchen abtut.
»Richtig.«
»Warum tut er das? Er hat doch nichts davon. Oder doch?«
Sie schüttelt den Kopf. »Nein. Er will nur ein wenig Genugtuung. Und den kleinen Anteil an Macht, den er ihnen gegenüber hat, nutz er, um sie um etwas zu betrügen, was ihnen wichtig ist. Er übt seine Revanche stückweise aus.«
In meinem Hirn arbeitet es. Ich versuche mich an seine Geschichte zu erinnern, die er mir auf unserer Fahrt erzählt hat.
»Weil sie ihn fortgerissen haben aus seiner Heimat.«
»Nicht nur. Sie haben ihm die Wahl genommen, sein Leben so zu führen, wie er es wollte. James hatte ein Stipendium in Neuseeland bekommen. Er wollte weg. Raus aus der Branche. Ich verstehe ihn irgendwie, aber auf diese Art?«
Nun, auf welche sonst sollte man die Herren des Todes strafen? In meinen Augen hat der Kerl mehr Verstand bewiesen, als ich selbst in seiner Situation gehabt hätte. Abgesehen davon, dass eine solche Handlung nicht besonders gut überlegt ist, und zudem noch ein Schuss in den Ofen. Zu Recht ist er deshalb in Ungnade gefallen. Darum tauchte er bei mir auf, um mir die Arbeit an dem Leichnam zu übergeben: Er soll abdanken, verschwinden und einem vermeintlich loyaleren Bestatter seine ehrenvolle Arbeit als Laufbursche der Hölle überlassen, der Millers geheimes Jenseits-Kaffeekränzchen weiterführt.
»Harris, versuche bitte nicht krampfhaft Antworten zu finden. Es ist einfach so, wie es ist. Sie testen dich. Ganz einfach«, wiederholt Rachelle.
Ganz einfach. Interessant.
»Wenn du es schaffst, Herrn Secretary zur Überführung fertig zu machen, bekommst du James´ Status. Und er geht. Endlich …«
Wo er wohl hingeht? Und ob er davon weiß? Verdammt, ich kann einfach nicht aufhören zu denken! Er muss davon wissen, alles andere wäre nicht logisch. Das heißt aber auch, dass er mir gegenüber ein verdammt guter Schauspieler ist. Oder – der weitaus schlimmere Gedanke – einen Plan vorbereitet und nicht die leiseste Absicht hat, mir sein geregeltes Leben zu überlassen.
Im Morgengrauen verlasse ich leise meine tiefschlafende Schöne. Sie liegt zusammengerollt neben mir, fest an mich gepresst. Es ist das genialste Gefühl das ich je hatte – eine wunderschöne, liebevolle, kluge Frau findet mich attraktiv. Ich drehe mein Piercing bis es schmerzt, damit ich merke, dass ich nicht träume und auch nicht im Delirium dümple. Als ich sie küsse, fasst sie meine Hand so fest, dass ich befürchte, ihr die Finger brechen zu müssen, um frei zu kommen. Bereits als ich die Tür hinter mir schließe, fühle ich mich verletzlich und unendlich einsam.
Ich habe eine seltsame Grenze übertreten. James sitzt trinkend in einem der Sessel in der einzigen Ecke des Wohnraumes, in das kein Licht von den Laternen dringt.
»Besser du lässt die Finger von ihr. Sie ist gefährlich.«
Seine Stimme klingt rau und matt. Ich seufze genervt. Ich habe keine Lust auf Diskussionen solcher Art und
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