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Kaltherzig

Titel: Kaltherzig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tami Hoag Fred Kinzel
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Kleinmädchenverliebtheit« , hatte es Kayne Jackson genannt. Heldenverehrung. Irina war all das gewesen, was Lisbeth nicht war - anspruchsvoll, exotisch, weltgewandt, kühn, abenteuerlustig. Mein Blick wanderte von den Fotos von Irina zu einem Bild von Lisbeth mit Paul Kenner und Sebastian Foster, einer Aufnahme von Juan Barbaro und einigen anderen Spielern und dann wieder zurück zu Irina.
    Ich trat von der Küche in einen kurzen Flur. In dem kleinen Badezimmer lagen eine Menge feuchter Handtücher auf dem Boden. Ein nasses T-Shirt und eine Cargo-Shorts waren in den Mülleimer gestopft worden. Sie rochen nach Sumpf und Erbrochenem.
    Das Schlafzimmer war von komfortabler Größe, mit lavendelfarben gestrichenen Wänden. Das Bett war völlig zerwühlt. Der Abfalleimer quoll über von zerknüllten Papiertaschentüchern. Vom Weinen, dachte ich. Lisbeth hatte ihre beste Freundin verloren, fühlte sich selbst verloren. Und: Sie hatte Angst. Sie wusste mehr, als sie irgendwem verriet. Das war eine schwere Bürde für ein Mädchen aus einem Kaff in Michigan.
    An einer Wand des Zimmers stand ein Kleiderständer, an dem eine eingedampfte Version von Irinas Designergarderobe hing. Ihre Handtasche lag auf der Wäschekommode. Sie enthielt ihre Geldbörse und ihr Handy.
    Wohin wäre sie ohne ihre Geldbörse gegangen? Welches Mädchen in ihrem Alter hatte nicht pausenlos das Handy am Ohr?
    Unbehagen erfasste mich und lief mir wie ein Tropfen Wasser am Rückgrat hinunter. Ich drehte mich zur Tür um.
    Die Schranktür stand leicht offen. Ich zog sie auf und
brachte weitere Kleidungsstücke zum Vorschein, die teils an der Kleiderstange hingen, teils in einem Haufen auf dem Boden lagen. Und aus der Ecke starrten mir zwischen hängenden, langen Gewändern zwei blutrote Augen über einer Decke entgegen.
    Ich sprang mit einem Aufschrei zurück, dann fing ich mich und schaute noch einmal in den Schrank.
    »Lisbeth? O Gott, was ist mit dir passiert?«
    Ich schob die Kleidungsstücke auf den Bügeln zur Seite und kauerte mich nieder. Lisbeth sah aus wie eine Gestalt aus einem Horrorfilm. Ihre Augen waren blutunterlaufen, was das Kornblumenblau ihrer Iris aussehen ließ, als würde es leuchten. Ihr Haar war völlig verfilzt und von Gras und Blättern durchsetzt. Ihr Gesicht war so geschwollen, dass es so gut wie unkenntlich war.
    »Lisbeth«, sagte ich wieder, »kannst du mich hören?«
    Ich streckte die Hand nach ihr aus und überlegte, ob sie etwa tot war. Aber sie zuckte zusammen, als ich die Decke wegzog.
    »Komm«, sagte ich. »Komm raus da.«
    Ich bot ihr meine Hand an, und sie ergriff sie. Ihre Finger waren wie Eiszapfen. Sie begann zu weinen, als ich sie aus dem Schrank zog. Sie war in einen Frotteebademantel gehüllt und zitterte so heftig, dass sie kaum stehen konnte, und tatsächlich sank sie auf den Boden, rollte sich zu einer Kugel ein und begann rau und rasselnd zu husten.
    Ich kniete mich neben sie.
    »Lisbeth, bist du vergewaltigt worden?«, fragte ich rundheraus.
    Sie schüttelte den Kopf, weinte aber heftiger, ein heiseres Schluchzen aus tiefer Kehle.

    »Sag mir die Wahrheit.«
    Sie schüttelte erneut den Kopf und formte mit den Lippen ein Nein.
    Ich glaubte ihr nicht. Sie war gewürgt worden. Ich sah die Würgemale an ihrem Hals. Sie war so heftig gewürgt worden, dass die Blutgefäße in ihren Augen geplatzt waren.
    »Ich rufe einen Krankenwagen«, sagte ich.
    Sie packte mich am Arm. »Nein, bitte«, krächzte sie, was einen neuerlichen Hustenanfall auslöste.
    »Dann fahre ich dich selbst. Aber du musst in ein Krankenhaus.«
    Sie drückte meinen Arm so fest, dass ich sicherlich blaue Flecken davon bekommen würde.
    Ich zog die Tagesdecke vom Bett und legte sie um Lisbeth. Ich wusste nicht, was ihr zugestoßen war, aber ich erkannte, was sie jetzt empfand: Angst, Scham, Ungläubigkeit. Sie wünschte, sie würde aufwachen und feststellen, dass alles nur ein entsetzlicher Albtraum gewesen war.
    Ich streckte die Hand aus und strich ihr über das Haar. Lisbeth versuchte, sich aufzusetzen.
    »Ich... hab... solche Angst«, flüsterte sie.
    Sie sank bebend und schluchzend an mich. Ich legte die Arme um sie und hielt sie, ich weiß nicht wie lange, einfach fest. Ich dachte daran, wie oft in meiner Jugend ich mir gewünscht hatte, jemand würde das für mich tun. Wie schön es gewesen wäre, einfach jemanden zu haben, der mir Halt gab und einen Ort bot, an dem ich mich gefahrlos fallen lassen konnte.
    »Du bist in Sicherheit«,

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