Kaltstart
die dort in einer Serverfarm, oder wie immer das hieß, zusammengefasst waren. Die Bildschirme standen etwa in Kopfhöhe auf Schränken, die wohl die Rechner, Hubs und all den andern Kram enthielten, die ganze stumme Versammlung gab trotz des Glaskäfigs ständig das Summen eines kleinen Umspannwerks von sich. Wenn ich mich recht erinnere, war das nicht einmal die Computingpower für den ganzen Standort, sondern nur für einen Teil davon. Es ging das Gerücht, ein Hausmeister habe einmal durch eine zurückschlagende Glastür den Sicherheitsschalter für die ganze Struktur getroffen, und alle Rechner mit einem Schlag abgeschaltet, das sei einer der großen Tage in der Geschichte des Standorts. Ein Mythos, ohne Zweifel, aber er reflektierte den Wunsch der Beschäftigten, mit einem einzigen Schalterdruck die ganze Scheiße auf einmal lahm legen zu können.
Am Anfang schüttelte ich den Kopf, wenn ich an den Herren der Welt vorbeiging, nachher gewöhnte ich mich an ihr Summen. Ich durchquerte das Großraumbüro, das den Glaskasten umgab, und schlich an den meistens noch leeren Hasenkäfigen vorbei, in denen all die Bildschirme auf die fleißigen Controller, Sales- und Produktmanager und die anderen Knöpfchendrücker und Telefonierer warteten. Mein Platz war nicht dort. Mein Platz war in einem “Außenlager” (das hieß wirklich so), welches zwar an das Großraumbüro organisatorisch, aber nicht räumlich angegliedert war, und in dem ganz andere Bedingungen herrschten, in jeder Hinsicht. Es war mit einem zweiten Magnetkartenleser gesichert, und wenn der nicht funktionierte, musste ich den Wachschutz rufen, damit er mich hineinließ. Und dann stand ich da, während die Neonröhren an der Decke aufflackerten, und dachte: “Willkommen im Gulag, Abteilung Schrottverwertung.” Eigentlich konnte man das so nicht sagen. Ganz im Gegenteil lagerte hier, von einer dunklen kleinen Ecke hinter den letzten Regalen abgesehen, kein Schrott, sondern nur modernste Elektronik, immer die neuesten Produkte der Firma. Das Lager hatte den Zweck, firmenintern für die Verteilung neuer Maschinen zu sorgen. Weil die Abteilungen der Firma sich untereinander verhielten wie eigenständige Unternehmen, was wohl den Konkurrenzgeist stärken sollte, war dieses Lager, in dem ich arbeitete, eigentlich das Materiallager eines innerbertieblichen Computerhandels. Nur sah es eben aus wie die Schrottverwertung eines Gulags. Die Beleuchtung bestand aus einer Reihe von Neonröhren, die immer leuchten mussten, weil das Außenlager keine Fenster hatte. Manchmal funktionierte eine der Neonröhren nicht, aber auch bei voller Leistung drang das Licht nicht bis in alle Ecken vor. In der zweiten Regalreihe ganz hinten konnte es so duster sein, dass die Beschriftungen der gelagerten Kartons nur schwer zu entziffern waren. Die Wände des Außenlagers waren unverputzt, was dem ganzen Arrangement innenarchitektonisch gesehen einen erfrischend provisorischen Charakter verlieh. An manchen Stellen war der rohe Kunststein allerdings mit Platten bedeckt, deren grau-rauhe Oberfläche den Begriff “Asbest” geradezu ausdünstete. Das Außenlager hatte auch keine Heizung. Das war recht ungeschickt, denn zwischen dem Dach des Gebäudes und der Mauerkrone waren etwa 20 bis 25 Zentimeter Platz, so dass sich im Sommer manchmal sogar Vögel zu uns verirrten. Eine meterdicke Abluftleitung, die zum Heizungssystem des angrenzenden Großraumbüros gehörte, und das ganze Außenlager der Länge nach durchquerte, sorgte dafür, dass wir im Winter nicht erfroren. Leider machten die Pumpen, die diese Leitung speisten, einen gehörigen Lärm, und zwar je mehr, je mehr warme Abluft hindurchgepumpt wurde. Man hatte also im Extremfall die Wahl zwischen echter Kälte mit erträglichem Lärm oder unangenehmer Kühle mit lärmverursachtem Kopfweh. Ich fror manchmal wie ein Schneider.
Ob ich fror oder nicht, ich war der Lagerverwalter, einer von dreien. Das bedeutete, dass ich die Daten der hereinkommenden und hinausgehenden Waren in eine alte HP–Workstation eingab, vor allem den Regalplatz, an dem ich sie abgelegt hatte, damit sie später an diejenigen ausgehändigt werden konnten, für die sie bestimmt waren. Selbstverständlich mussten dabei auch eine ganze Menge 21-Zoll-Bildschirme (Gewicht ohne Verpackung: 37 Kilo) durch die Gegend gewuchtet werden, und für Arbeitsschuhe oder Schutzhelme war leider kein Geld da gewesen. Ein recht unlogisches Regal- und Klassifizierungssystem und die
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