Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Kaltstart

Titel: Kaltstart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Hammerschmitt
Vom Netzwerk:
ein wenig mehr anstrengen, fester zusammenstehen als bisher, und die Firma könne bald wieder ganz obenauf sein. Ich versuchte, weiterhin im Internet zu surfen (für die Dauer der Rede wurde praktisch in der ganzen restlichen Firma nicht gearbeitet), aber der CEO schien von Natur aus eine unangenehme Stimme zu haben, die durch die Lautsprecherblechtüte nicht verbessert wurde. Die Rede ging mir ins Hirn wie eine Kreissäge, und hinterließ, wie diejenige T., eine Verletzung.
    Es gäbe noch soviel zu erzählen. Über meine Tagträume, in denen ich den ganzen Standort nach einem Napalm-Angirff in Flammen aufgehen sah. Über die Kantine, gegen die die größte Universitätsmensa ein gemütliches Gasthaus war, von den Preisen und der Qualität der Mahlzeiten ganz zu schweigen. Von dem glänzenden Betriebsklima, möglicherweise auch ein Ergebnis des Geschäftskodexes, der die Mitarbeiter dazu verleitete, sich gegenseitig nach ihren Betriebsausweisen zu fragen, wenn die nicht auf den ersten Blick sichtbar am Hemd hingen. Vom so genannten “Mitarbeiterverkauf”, bei dem man die Produkte der Firma mit dreißigprozentigem Rabatt beziehen konnte, aber leider ohne Garantie (ich nahm dann davon Abstand, wohl wissend, wie oft die Geräte beschädigt von der Produktionsstraße kamen). Da waren die ungeduldigen Seitenblicke des Abteilungsleiters, wenn er uns zu oft an der Kaffeebar im Großraumbüro antraf (Kaffee und Tee gab es kostenlos). Da war dieses unvergessliche Gefühl der steifer und steifer werdenden Finger auf dem kühlen Plastik der Tastatur an einem wirklich kalten Tag. Da war der Unfallort, an dem Dave und ich an einem kalten und gefährlichen Morgen vorbeikamen: Der Eisregen hatte die Straßen spiegelglatt gemacht, ein Auto lag wie ein umgedrehter Käfer auf dem Rücken, und die Feuerwehrleute mit leuchtenden Reflektorstreifen an den Helmen sprangen wie menschliche Ameisen um es herum. Da war der festangestellte Mitarbeiter, der alle Leute um sich herum als “Hühnerficker” bezeichnete, aber den ich eigentlich ganz gut hätte haben können, wenn ihn sein offensichtlicher Sexualfrust nicht so bitter gemacht hätte. Und all das verdichtete sich im Laufe der Zeit zu einer schweren, kalten, dunkelgrauen Wolke über mir, den größten Ausdehnungen nach 3 Tage pro Woche breit, und 8 Monate lang. Warum habe ich es in diesem Dreckloch 8 Monate lang ausgehalten, und nicht wenigstens die krassesten Missstände abzustellen versucht, wenn ich doch schon Gewerkschaftsmitglied war? Statt wirklich auf den Putz zu hauen, kämpfte ich mit einer gewissen Obstinanz um eine bessere Heizung, und surfte, wann immer ich konnte, im Internet, die Recherche für meine eigenen Texte inbegriffen. Nach viermaliger Forderung bekamen wir dann unseren Ölradiator, der unter den Arbeitstisch gestellt wurde, und die Beine ordentlich aufheizte, aber alles oberhalb der Tischplatte so kalt ließ wie zuvor. Wegen meiner Internetsurferei und meinem generellen Unwillen, ein guter Neger zu sein, wurde aus dem Versprechen des Abteilungsleiters nichts, mir einen anderen Arbeitsplatz in der Firma zu besorgen. Dann gewann ich einen Prozess gegen meinen ehemaligen Vermieter, der mich wegen “Eigenbedarfs” gekündigt hatte (in Wahrheit war ihm die anstehende Renovierung des Teppichbodens zu teuer gewesen), und hatte plötzlich ein paar tausend Mark an der Hand. Ich beschloss, freier Schriftsteller zu werden.

Obsolet (Analytical Engine)

    Der Begeisterung über die Computer des Charles Babbage aus dem letzten Jahrhundert ist immer auch ein Befremden, ja eine Bestürzung beigemischt, deren Quelle in einer spezifischen Kränkung zu finden ist: Man hält sich für einen modernen Menschen, man hat doch schließlich all die Abendkurse gemacht, um die Anforderungen des Berufslebens zu bewältigen, man weiß doch, was ein Computer ist. Die Erkenntnis, dass es zu Lebzeiten Goethes zwei wagten, einen programmierbaren Computer bauen und ihn betreiben zu wollen, kann schockierend sein. Babbages und Lovelaces Genie verursachen Kopfschütteln. Warum hatten sie den Mut, eine Abzweigung vom allgemeinen Weg zu nehmen, die nur ganz wenige überhaupt sehen konnten? Was wäre, wenn sie sich durchgesetzt hätten? Es ist uns nicht wohl bei der Idee, dass die Computermoderne beinahe im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts begonnen hätte. Wir sind Zeitgenossen! Goethe war keiner, dem verursachte ja schon das heraufdämmernde Zeitalter der Eisenbahn Magendrücken! Wir sind

Weitere Kostenlose Bücher