Kammerflimmern
dem Friedrichsplatz waren in sich zusammengefallen oder vom Wind umhergetrieben worden. Und trotz der unchristlichen Uhrzeit standen Dutzende von Gaffern frierend und mit geheuchelter Anteilnahme daneben und sahen den Helfern und Handwerkern bei der Arbeit zu. Lenz ging weiter zum Königsplatz, auch dort waren die Betreiber der Weihnachtsmarktstände stark betroffen. An der Fassade eines Einkaufscenters hatte sich eine riesige Werbetafel gelöst und schaukelte träge hin und her.
Auch das Polizeipräsidium, wo Lenz zehn Minuten später ankam, war nicht verschont geblieben. Der Sturm hatte einem Besucher die Tür des Haupteinganges aus der Hand geschlagen und die Wucht des Aufpralls das Glas darin zerstört.
Hain saß schon am Schreibtisch und las in einer Akte.
»Moin«, begrüßte er seinen Chef. »Ausgeschlafen?«
»Morgen, Thilo. Ja, hab ich. Gibt’s schon Kaffee?«
Sein Kollege hob die Akte hoch und hielt sie Lenz vor die Nase.
»Lies das. Ich hol dir einen.«
Der Hauptkommissar nahm den Ordner in die Hand und wollte gerade anfangen zu lesen, als sein Mobiltelefon klingelte.
»Lenz.«
»Guten Morgen, Herr Hauptkommissar. Hier spricht Pia Ritter vom Polizeirevier Ost. Haben Sie einen Moment Zeit?«
»Morgen, Frau Ritter. Was gibt’s denn?«
Lenz hatte den Namen der Kollegin schon einmal gehört, konnte aber kein Gesicht damit in Verbindung bringen.
»Wir haben hier eine komische Geschichte, Herr Lenz. Letzte Nacht gab es einen Verkehrsunfall auf der B 83, kurz hinter der Stadtgrenze. Der Pkw fuhr Richtung Bergshausen, kam in Höhe des Kieswerkes von der Straße ab, hat einen Zaun durchbrochen und ist dann gegen einen Baum geprallt. Trotz des schlechten Wetters ist er vermutlich viel zu schnell unterwegs gewesen. Es hat leider bis heute Morgen um fünf gedauert, ehe die Sache einer Streife aufgefallen ist. Solange hat der Fahrer bewusstlos neben dem Auto gelegen.«
»Ja …?«, formulierte der Kommissar vorsichtig, weil er sich fragte, was die Kollegin eigentlich von ihm wollte.
»Na ja, es sieht ziemlich übel aus für ihn. Die Ärzte im Klinikum sagen fifty-fifty, wenn es gut läuft. Auch, weil er überall Erfrierungen hat. Aber auf der anderen Seite glauben sie, dass die Kälte ihn davor bewahrt hat, zu sterben. Merkwürdig, oder?«
Lenz hatte keine Lust, sich in Dinge einzumischen, von denen er nicht den Hauch einer Ahnung hatte.
»Stimmt, das klingt paradox. Wenn die Ärzte es sagen …«
»Also, wir waren an der Unfallstelle und haben die Personalien aufgenommen. Dabei haben wir in seiner Brieftasche eine Visitenkarte von Ihnen gefunden. Und jetzt dachte ich, ich sage Ihnen Bescheid, vielleicht handelt es sich bei dem Mann ja um einen Freund oder Bekannten von Ihnen.«
»Wie heißt der Mann denn, Frau Ritter?«
»Frommert. Waldemar Frommert.«
Lenz klappte sein Telefon zusammen, steckte es in die Jacke und setzte sich. Als Hain mit dem Kaffee in der Hand zurückkam, empfing der Hauptkommissar seinen Kollegen mit einem verstörten Gesichtsausdruck und erntete dafür einen fragenden Blick.
»Was ist denn mit dir plötzlich los?«
»Frommert ist letzte Nacht mit seinem Auto verunglückt.«
»Der IHK-Frommert?«
Lenz nickte und legte den Ordner, den er während des Telefongespräches mit der Kollegin in der Hand gehalten hatte, zur Seite.
Hain stellte die Tasse auf den Tisch und angelte mit dem Fuß nach einem Stuhl.
»Ist er tot?«
»Noch nicht ganz, aber es sieht verdammt schlecht aus für ihn.«
Lenz gab seinem Kollegen weiter, was die Polizistin ihm erzählt hatte und stand dann auf.
»Wir müssen ins Klinikum, vielleicht ist er ja doch irgendwie ansprechbar. Ich will wissen, was da passiert ist. Und wir müssen uns sein Auto ansehen.«
Frommert war alles andere als ansprechbar. Der zuständige Arzt der Notaufnahme erklärte den Polizisten, dass er im OP sei und sein Leben am seidenen Faden hinge.
»Er ist als Polytrauma bei uns im Schockraum angekommen, das heißt, er hat mehrere lebensbedrohliche Verletzungen. Seine Milz ist gequetscht, was zu inneren Blutungen geführt hat, und er hat einen offenen Bruch des rechten Oberschenkels. Daneben hat er Erfrierungen an den Extremitäten. Die größte Sorge macht uns ein Schädel-Hirn-Trauma dritten Grades mit starker Blutung. Meine Kollegen sind seit halb sieben mit ihm im OP, aber es wird sicher noch einige Stunden dauern. Und wenn er danach noch lebt, legen sie ihn höchstwahrscheinlich ins künstliche
Weitere Kostenlose Bücher