Kammerflimmern
wollte.
Auf seinem Schreibtisch fand er die Mitteilung eines Kollegen: in der Friedrich-Ebert-Straße 84 wohne eine Roswitha Krauss. Eine andere Frau mit dem Vornamen Roswitha sei in dieser Straße nicht gemeldet.
Lenz ging nach nebenan. Dort packte Hain gerade seinen Rucksack. Der Hauptkommissar wedelte mit dem Zettel.
»Feierabend ist nicht.«
Hain sah ihn ungläubig an.
»Schick doch die Jungs vom Kriminaldauerdienst hin, Paul. Ich kann kaum auf den Beinen stehen, so müde bin ich.«
Lenz sah noch einmal auf die Adresse.
»Es ist ganz in der Nähe. Lass uns zusammen vorbeifahren, dann bringst du mich nach Hause. Sonst muss ich mir jemanden suchen, alleine geht das auf keinen Fall, weil wir es schließlich mit einem Verdächtigen in einem Mordfall zu tun haben.«
Dieser Argumentation konnte Hain sich nicht entziehen.
»Schon gut«, erwiderte er gequält, »ist ja schon gut …«
Sie brauchten für die etwa zwei Kilometer, die unter normalen Umständen in drei Minuten zu schaffen waren, eine gute halbe Stunde. Alle großen Kreuzungen der Stadt waren verstopft von quer stehenden und zugeschneiten Fahrzeugen.
Hausnummer 84 lag in einem Hinterhof. Als sie den Torbogen passierten, der den Innenhof von der Straße trennte, musste Lenz grinsen.
»Auf diesem Autofriedhof muss sich Patzke doch einfach wohlfühlen.«
Trotz des Schneesturmes konnte man erkennen, dass der Innenhof als illegaler Schrottplatz missbraucht wurde. Einige der kreuz und quer abgestellten Fahrzeuge waren offensichtlich abgemeldet. Bei zwei anderen standen die Heckklappen offen.
»Wie sieht es denn hier aus?«, fragte Hain mehr sich selbst, nachdem er den Motor abgestellt hatte.
Sie stiegen aus dem Wagen und rannten durch den Sturm auf die Haustür zu. Ein Klingelbrett im eigentlichen Sinn gab es wohl schon lange nicht mehr, stattdessen Löcher in einer Aluminiumplatte und Klebestreifen mit vagen Fragmenten von Namen. Nach einem Lichtschalter hätte hier nicht einmal der größte Optimist gesucht.
Hain holte sein Mobiltelefon aus der Jacke und schaltete die Taschenlampe ein. Im Widerschein der tanzenden Schneeflocken versuchte er, einen Namen zu erkennen.
»Unmöglich«, brüllte er in den Sturm.
»Selbst wenn man etwas sehen würde, die Leute, die hier wohnen, wollen wohl lieber inkognito bleiben.«
Lenz nickte, trat auf die Haustür zu und drückte dagegen. Sie war verschlossen. Mit zwei schnellen Schritten sprang Hain neben seinen Chef und zog energisch an der Tür, die ihm sofort entgegenflog.
»Mit Türen hast du es heute nicht so«, frotzelte der Oberkommissar, als sie im Hausflur standen.
»Du wusstest natürlich, dass sie nach außen aufgeht …«
»Ich wusste es nicht, aber mein alter Mentor hat mir mal erklärt, dass es bei Türen immer zwei Richtungen gibt, nach denen sie schwingen können.«
»Damals war der Typ bestimmt nicht so müde wie heute«, seufzte Lenz.
Im Haus zu sein, bedeutete für die beiden Polizisten noch lange nicht, auch die Wohnung von Roswitha Krauss gefunden zu haben. Da die Treppenhausbeleuchtung nicht funktionierte, mussten die Polizisten sich im matten Schein der Taschenlampe Stockwerk um Stockwerk emportasten. Auch ganz oben gab es kein Klingelschild mit dem Namen Krauss.
»Und jetzt?«, fragte Hain, als nur noch ein offenes Loch über ihren Köpfen zu sehen war, das den Aufgang zum Dachboden darstellte. Von jenseits des Daches war deutlich das Wüten des Windes zu hören.
Lenz zog die Schultern hoch.
»Wir können auch anders«, murmelte er, ging auf die nächste Tür zu und klopfte laut dagegen.
Eine Minute und zwei weitere Klopfeinlagen später wurde das Gesicht eines jungen Mannes in einem schmalen Spalt sichtbar. Er sah verängstigt aus.
Lenz ließ ihn erst gar nicht zu Wort kommen, parkte aber vorsichtshalber seinen rechten Fuß in der Öffnung.
»Wohnt hier eine Roswitha Krauss?«
»Nein, hier nicht. Die wohnt zwei Stock tiefer.«
»Welche Tür?«
»An der Treppe rechts.«
Lenz zog den Fuß zurück. Noch bevor er ›danke‹ sagen konnte, flog die Tür mit einem lauten Krachen zu.
Zwei Stockwerke tiefer musste Lenz nur einmal klopfen, dann hörten die Polizisten eine nasale Frauenstimme.
»Ja?«
»Kripo Kassel, machen Sie bitte auf.«
»Warum?«
»Das erklären wir Ihnen dann.«
Für ein paar Sekunden war Stille auf der anderen Seite.
»Hier hat’s schon einmal einen Überfall gegeben, da haben sich die Jungs auch als Polizisten ausgegeben«, sagte sie mit
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