Kammerflimmern
Direktor der Niederlassung von Mercury Medical in Hongkong, endlich hinter Sohn und Enkel die Wohnungstür schließen konnte, befand er sich kurz vor einem Nervenzusammenbruch.
Der Sechsjährige war den ganzen Tag bei ihm gewesen. Dass der Junge nur Playstation spielen wollte und bockte, wann immer der Großvater versuchte, ihn zu einem anderen Spiel zu überreden, war das eine. Schlimmer war es, dass er sich weigerte, allein zu spielen. Sieben Stunden lang hatte Hal Bristol Autorennen und Fußball gespielt, hatte gegen Monster gekämpft und auf einem Bildschirm Hundebabys gezüchtet, ohne aus anderen Gründen vom Sofa aufzustehen, als zur Toilette zu gehen und Nachschub an Cola und Chips zu holen.
Eine sanfte Stille erfüllte jetzt die kleine Wohnung. Hal Bristol massierte sich die Schläfen, kniff die Lider zusammen, holte tief Luft und beschloss, sofort mit der Suche anzufangen.
Am frühen Morgen war er mit einem Ruck aus dem Schlaf gefahren.
Normalerweise schlief er die ganze Nacht lang tief, und es machte ihm oft Probleme aufzustehen, wenn der Wecker klingelte. An diesem Tag aber war er vor sechs von einem Gedanken geweckt worden, der verschwunden war, ehe er sich richtig hatte festsetzen können. Verwirrt hatte er versucht, sich zu erinnern.
Erst einige Stunden später, als die Türklingel ging, während er gerade eine Partie Blitzschach gegen seinen Computer beendete, war der Gedanke wieder aufgetaucht.
Mit der Post war ein anonymer Brief gekommen.
Er war an ihn adressiert gewesen, nicht ans Büro, und er hatte irgendwann zu Jahresbeginn auf der Kommode gelegen, als er von der Arbeit nach Hause gekommen war. Im Januar, glaubte er, war sich aber nicht sicher. Seit Jasmine vor zwei Jahren an Krebs gestorben war, hatte er dreimal in der Woche eine Haushaltshilfe, vor allem zum Kochen. Viel Schmutz und Unordnung machte er ja nicht, aber es war nett, in ein Haus zu kommen, in dem jemand auf Kleinigkeiten achtete. Auf dem Küchentisch konnte ein Blumenstrauß stehen. Ein duftendes Stück Seife konnte im Badezimmer und ein neues Deckchen unter einer Konfektschale auf dem Wohnzimmertisch liegen. Das Essen, das die zierliche Chinesin kochte, war außerdem hervorragend. Immer zwei Mahlzeiten auf einmal, damit er sich an den Tagen, an denen sie nicht kam, etwas aufwärmen konnte.
Immer legte sie die Post des Tages auf die Kommode.
Der Umschlag war ihm sofort aufgefallen. Er war nicht so flach wie alle anderen Briefe und Rechnungen, und als er ihn vorsichtig in die Hand nahm, merkte er, dass ein kleiner Gegenstand darin lag. Es fühlt sich an wie ein USB-Stick, dachte er und hatte damit richtig geraten.
Als er das Begleitschreiben las, geriet er in Wut.
Beigelegt finden Sie ein Computerprogramm, das einen Mann in Ihrer Stellung interessieren dürfte. Der Mercury Deimos ist durchaus nicht das Produkt, als das er sich ausgibt. Das kann böse Folgen haben. Viel Glück.
Er hatte den Brief zusammengeknüllt und in den Mülleimer in der Küche geworfen. Den Stick hatte er auf der Kommode im Gang liegen lassen, ohne weiter daran zu denken.
Seit er vor zweiunddreißig Jahren eine Hongkongchinesin aus der Oberklasse geheiratet hatte, waren Drohungen für Hal Bristol fast schon Alltagskost. Jasmines Familie schwamm nicht nur im Geld, es konnte auch durchaus danach gefragt werden, wie sie ihren Reichtum erlangt hatte. Obwohl die Familie sich in den vergangenen Jahren in an sich redlichen Geschäften engagiert hatte, zweifelte er keinen Augenblick daran, dass mehrere von Jasmines Brüdern noch immer leitende Rollen in einer der größten Triaden spielten. Dass Jasmine mit der Familie gebrochen und einen Briten geheiratet hatte, der nur über das Geld verfügte, das er als junger Computeringenieur verdiente, war nicht gern gesehen worden.
Mehrmals hatte Jasmine ihn angefleht umzuziehen. Der Terror, dem sie ausgesetzt waren, wechselte vom plump Grotesken zum raffiniert Infamen. Zum Beispiel hatte jemand kleine Geräte in die Schlafzimmerwand eingesetzt, die ein Geräusch aussandten, das das menschliche Ohr gerade noch wahrnehmen konnte. Hal und Jasmine hatten vier Nächte lang im Wohnzimmer schlafen müssen, ehe sie endlich einen Tontechniker fanden, der diese teuflischen Geräte ausfindig machte.
Mit den Jahren hatte die Lage sich ein wenig beruhigt.
Bei Jasmines Tod war es seltsamerweise noch einmal losgegangen. Also brauchten sie nun gar keine Rücksicht mehr auf sie zu nehmen und könnten den Terror
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