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Kammerflimmern

Kammerflimmern

Titel: Kammerflimmern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Even Anne; Holt Holt
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Aussicht zu genießen. Sein Schreibtischsessel kehrte den riesigen Fenstern den Rücken zu. So wollte er es, und so war es immer gewesen. Zum einen wurde er vom Großstadtpanorama nicht abgelenkt. Zum anderen wurde er zu einer dunklen Silhouette für alle, die auf die Idee kämen, CEO Otto Schultz in seinem Büro im obersten Drittel des Wolkenkratzers in Manhattan zu besuchen, in Mercury Medicals Hauptquartier. Auf seinen Befehl hin wurde das Vorzimmer dunkel gehalten, wer sein Zimmer betrat, wurde geblendet.
    In zweifacher Hinsicht.
    Otto Schultz war zweiundsechzig Jahre alt und so dick, dass sein Schreibtischsessel eine Spezialkonstruktion war. Er hatte im College als Middle Linebacker gespielt, eine Position, die Klugheit und Gewicht verlangt hatte. In der Footballsaison 1971 hatte er zu den heißesten Kandidaten gehört, als es um die Anwerbung für die Profimannschaften ging. Aber er hatte alle damit überrascht, dass er seine sportliche Karriere an den Nagel gehängt hatte. Er studierte nach einer freiwilligen Runde als Sergeant in Vietnam Medizin. Nach seiner Rückkehr absolvierte er sein Klinikum und studierte nebenbei Wirtschaftswissenschaften. In den ersten zehn Jahren seines Berufslebens schlief er niemals mehr als vier Stunden.
    Otto Schultz war ein überragender Mann, zwei Meter groß und 248 Pfund schwer. Das Gewicht war gut verteilt, obwohl das Alter natürlich seine Spuren hinterlassen hatte. Noch immer spielte er regelmäßig Golf und Tennis, und alle zwei Monate ließ er sich von einem Arzt auf Herz und Nieren überprüfen. Das Ergebnis war immer tadellos: niedriger Cholesterinspiegel, ein Herz wie ein Pferd und eine Leber wie ein siebzehn Jahre alter Antialkoholiker.
    Er erhob sich aus dem Schreibtischsessel. Legte die Hand um seinen Stiernacken und drehte den Kopf zweimal hin und her, ehe er ans Fenster trat. Der leichte Regen hatte am Morgen aufgehört. Die Sonne brach durch die Wolkendecke und wurde vom Hudson River als Lichtkaskade reflektiert.
    Er freute sich auf Besprechung und Pressekonferenz dieses Abends.
    Während er einem Schlepper nachsah, der flussaufwärts fuhr, murmelte er seine längst fertige Rede. Otto Schultz las nie vom Manuskript ab. Das bedeutete nicht, dass er sich nicht vorbereitet hätte. Obwohl er Redenschreiber hatte, war jeder seiner Auftritte unverkennbar von seinem Wesen geprägt. Er besaß die Fähigkeit eines Schauspielers, lange Texte auswendig zu lernen, aber immer ließ er Raum für Improvisation.
    Der Schlepper dort unten sah aus wie ein Spielzeug, klobig und rund. Er erinnerte ihn an ein Boot, mit dem er als Kind in der Badewanne gespielt hatte, und er lächelte ein wenig.
    Alles wäre so gewesen, wie es sein sollte, wenn am Vortag nicht diese E-Mail eingelaufen wäre. Die machte ihn auf eine ungewohnte Weise nervös. Otto Schultz war ein Mann, der sich nicht leicht beunruhigen ließ. Er hatte sein Berufsleben in eisernem Griff. Und sollte der sich dennoch für einen Moment lockern, gab es immer Möglichkeiten, die Kontrolle zurückzugewinnen. Die besten Leute. Überlegene Technologie. Otto Schultz war durch harte Arbeit, einen klugen Kopf und eine Art, tüchtige Menschen so zu behandeln, dass sie sich einzigartig fühlten und ihr Allerbestes gaben, an die Spitze gelangt. Sein Mangel an Verständnis, falls jemand nicht gut genug war, ließ ihn gnadenlose Konsequenzen ziehen. Diesem Mann trat man mit vager Furcht und tiefer Bewunderung gegenüber. Und man hatte zu beidem guten Grund.
    Für Otto Schultz gab es nur zwei Dinge, die im Leben etwas bedeuteten: Mercury Medical und seine Familie. In dieser Reihenfolge.
    Am Morgen war Mercury Medical an der Börse auf 256 Milliarden Dollar notiert worden. 2009 hatte das Unternehmen zum ersten Mal in der Geschichte die Hundertmilliardengrenze überschritten. In diesem Zusammenhang war Otto Schultz von CNN interviewt worden, wobei der Journalist großen Wert auf die Tatsache gelegt hatte, dass die Finanzkrise diese gigantische Firma offenbar nicht betroffen hatte. Eher sah es nach dem Gegenteil aus. Otto Schultz grinste, schaute in die Kamera und erklärte, die Menschen brauchten auch nach dem Zusammenbruch der Finanzmärkte Herzmedizin und Mittel gegen Magengeschwüre. Oder vielleicht noch mehr, fügte er nach einer kleinen Kunstpause hinzu.
    Dass der norwegische Staat sich in die Gesellschaft eingekauft hatte, war nicht zuletzt für Otto Schultz ein Sieg. Er hatte eine so solide Firma aufgebaut, dass ein ganzes Land es

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