Kammerflimmern
einfach, was sein muss. Nicht anrufen.
Verdammt. Das hatten sie jedenfalls nicht verabredet.
Der Mann starrte die Mitteilung entgeistert an. Vermutlich ist die Leiche zugedeckt, dachte er. Auch wenn die Gegend viel besucht war, vor allem an den Wochenenden und so nah am Parkplatz, könnte es Tage dauern, bis jemand über den Toten stolperte. Er musste auf den Weg gebracht werden. Wer ihn fände, würde die Polizei informieren. Die würde den Toten zum Rikshospital bringen, wo das Rechtsmedizinische Institut untergebracht war.
»Verdammt«, wiederholte er verbissen.
Er brauchte das Geld. Verdammt dringend. Wenn der Alte einfach so im Rikshospital landete, würde es wahrscheinlich kein Geld geben.
Er riss sich die Mütze vom Kopf und stopfte sie in die Tasche.
Dann entschied er, was zu tun war, und lief den Weg hinunter zum Auto, um zu holen, was er brauchte.
7.00 a.m.
Central Park, Manhattan, NYC
Der Mord war nie aufgeklärt worden.
Catherine Adams ging vor der großen Ulme in die Hocke und legte die Blumen dicht an den Stamm. Das feuchte Einwickelpapier würde die Blumen den ganzen Tag lang frisch halten. In den ersten beiden Jahren, in denen sie an ihren ermordeten Mann gedacht hatte, war sie mit einer Vase hergekommen, die aber sofort gestohlen worden war.
Langsam richtete sie sich auf und faltete die Hände.
»Du fehlst mir«, flüsterte sie.
Das stimmte. Auch wenn die Trauer jetzt, vier Jahre später, nicht mehr alles überschattete und ihr Leben durchaus erträglich geworden war, verging doch kein Tag, ohne dass sie an ihn gedacht hätte. Ab und zu ertappte sie sich sogar bei einem Lächeln über irgendeine Erinnerung, was im ersten Jahr unmöglich gewesen wäre.
Sie hatten vierzehn kinderlose Jahre miteinander verbracht, und er fehlte ihr, mit all seinen Gewohnheiten und Fehlern.
Hätte die Polizei den Mord aufgeklärt, wäre es vielleicht natürlich gewesen, zum Grab zu gehen. Dann wäre sie an jedem 6. Mai zum Evergreen Cemetery in Kennebunkport, Maine, gefahren. Peters gesamte Verwandtschaft hatte protestiert, aber sie hatte sich für einen grob zurechtgehauenen kleinen Obelisken entschieden, auf dem nur sein Name und sein Geburts- und Todestag eingemeißelt waren.
Einem Grabstein ihre Liebe zu erklären war albern, fand Catherine, und der Stein auf Peters Grab war der schlichteste und unauffälligste, den sie hatte auftreiben können.
Aber das Grab war ihr nicht wichtig.
Sein Leben hatte hier, auf dem dunklen Weg unter den Bäumen im Norden des Parks, ein Ende genommen. Hier war sie ihm am nächsten. Hier und in seinem Arbeitszimmer zu Hause, das seit dem Abend, an dem er gestorben war, unverändert geblieben war. Es kam nicht mehr so oft vor, dass sie die verschlossene Tür mit dem Schlüssel öffnete, der an einer Goldkette um ihren Hals hing, aber wenn sie das Zimmer betrat, glaubte sie, den Drehstuhl knarren zu hören, wenn er sich vom Schreibtisch am Fenster zu ihr umdrehte.
Sie hatte ihn vor dem Joggen gewarnt. Alle wussten, dass der Central Park so spät am Abend gefährlich war, auch wenn die Kriminalität seit der Jahrhundertwende stetig abgenommen hatte. Sie selbst war bei ihren Eltern gewesen, drei Stunden nördlich von New York, und Peter hätte am Freitagabend heraufkommen wollen. Stattdessen erschien mitten in der Nacht die Polizei mit der tragischen Nachricht vom Tod ihres Mannes. Das war ungefähr das Einzige, was sie in diesem Fall unternommen hatten. Trotz Peters Position und trotz seiner einflussreichen Freunde war der Fall als Raubmord eingestuft worden, begangen von einem oder mehreren der losen Vögel der Stadt, und nach zwei Monaten in einem Archiv gelandet.
Raubmord, hatten sie gesagt.
Als sie protestierte und sagte, er habe beim Joggen niemals Geld bei sich gehabt, wechselten sie einen Blick, die beiden Polizisten, der eine hatte ein wenig gelächelt, der andere die Augen verdreht. Dass Peter seine Armbanduhr zu dreihundert Dollar noch trug, als er gefunden wurde, nahmen sie auch nicht weiter wichtig.
Hätte man den Mord aufgeklärt, wäre alles einfacher.
Langsam trat sie einen Schritt zurück.
Ein zerzaustes Eichhörnchen jagte vor ihren Füßen vorüber. Beim Blumenstrauß hielt es inne und schnupperte kurz. Es schaute sie an und streckte ihr die Vorderpfoten hin, wie um Futter zu erbitten.
Catherine Adams drehte sich um und ging langsam nach Hause.
7.10 a.m.
Mercury Medical Zentrale, Manhattan, NYC
Otto Schultz nahm sich nur selten Zeit, die
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