Kammerflimmern
einlud, verliefen kühl, und er wusste nicht, wie er die alte Vertrautheit mit seinen Kindern zurückgewinnen sollte. In der vergangenen Woche war William nicht einmal aufgetaucht.
Der Absender der E-Mail war unbekannt.
Der Inhalt war nicht wichtig und ging ihn weder privat noch beruflich an, aber gerade das beunruhigte ihn. Niemand schrieb ihm, wenn es nicht wichtig war. Nicht an diese Adresse.
Otto Schultz hatte vier E-Mail-Adressen. Eine für die Allgemeinheit, für die eine Sekretärin zuständig war, um einen Anschein von Erreichbarkeit zu erwecken. Die zweite Adresse war für die Angestellten von Mercury Medical in aller Welt und wurde ebenfalls vom Vorzimmer aus bedient. Eine Adresse war für Freunde und Verwandte reserviert. Dort sah er zweimal am Tag nach. Die letzte Adresse war nur knapp dreihundert Menschen bekannt, unter ihnen die wichtigsten Chefs von Mercury Medical, ein paar einflussreiche Senatoren und Kongressangehörige, zwei Präsidenten, ein oder zwei Ministerpräsidenten und natürlich Oprah Winfrey.
Die fragliche E-Mail war an die letzte Adresse gegangen. Wer war der Absender? Warum war die Mail geschickt worden, und wie in aller Welt hatte der Betreffende diese überaus geheime Adresse an sich gebracht?
Otto Schultz wandte sich vom Fenster ab und setzte sich wieder in den riesigen Schreibtischsessel. Er tastete sich rasch zu der störenden E-Mail durch und überflog den Text ein weiteres Mal. Um sich selbst klarzumachen, wie belanglos diese Post war, wollte er sie schon löschen, überlegte sich die Sache dann aber anders. Vielleicht könnte die Sicherheitsabteilung feststellen, wo die Mail abgeschickt worden war. Statt auf die Löschtaste zu drücken, überführte er die Mail in seinen privaten Ordner und befahl dann dem Sicherheitschef in einer weiteren Mail, sich um zehn nach elf bei ihm zu melden.
Jetzt hatte er immerhin etwas unternommen.
Er musste aufhören, an diese verdammte Mail zu denken.
Am Abend war die Pressekonferenz. Damit war er mehr als genug beschäftigt. Er hob die Kaffeetasse mit der für diesen Tag zugemessenen Ration schwarzen Gebräus und entschloss sich zu einem Abstecher in das Fitnessstudio im 43. Stock.
13.16 Uhr
Dæhlivannet, Bærum
»Marius! Marius! Immer brav bei uns auf dem Weg bleiben!«
Die blonde Frau von Mitte vierzig trug leichte Wanderkleidung. Vor ihr auf dem Weg trotteten sechs Fünfjährige mit gelben Reflexwesten, zwei und zwei nebeneinander. Ein Mann von etwa fünfundzwanzig ging weiter hinten mit einem vollgestopften Rucksack. Zwischen den Erwachsenen tollten neun Kinder im Alter von drei bis vier Jahren herum.
»Er schafft das nicht«, sagte der Mann und lachte. »Marius kann einfach nicht in der Reihe bleiben. Er hat Ameisen im Ar... im Hinterteil.«
Marius war bereits sechs und damit das älteste von allen Kindern. Wie ein Hund war er auf dem ganzen Weg vom Kindergarten hin und her gelaufen.
In den Wald und aus dem Wald, um jede Baumgruppe, an der sie vorbeigekommen waren.
»Irgendwann muss er doch mal müde werden«, sagte die Frau.
»Aber klar doch«, antwortete ihr Kollege und drehte sich zu einer Norwegisch-Somalierin um, die nur mit Mühe Schritt halten konnte. »Na los, Ayan!«
»Ich hab ’nen Toten gefunden«, rief Marius.
Die Frau blieb stehen. Die Kinder liefen weiter.
»Halt«, rief die Frau.
Die beiden Kinder ganz vorn streckten die Arme zur Seite, damit die anderen nicht weitergehen könnten.
»Einen Toten«, schrie Marius wieder, er kam mit glücklicher Miene auf sie zugerannt. Sein Gesicht glühte.
»Ganz echt«, rief er. »Einen echten alten Mann, der tot ist!«
Die fünfjährige Frida fing zu weinen an. Die kleinsten Kinder, zwei Jungen, die gerade drei geworden waren, heulten ebenfalls los, ohne so recht zu wissen, warum.
»Kekse«, rief der Mann und nahm den riesigen Rucksack ab. »Wer will Kekse und Saft?«
»Ich«, rief Marius.
Der Mann nahm Blickkontakt zu der Frau auf. »Geh du schon mal«, sagte er. »Ich halte sie hier fest.«
»Mein Opa ist auch tot«, schluchzte Frida. »Der ist zu Heiligabend gestorben.«
Ayan hatte sie endlich eingeholt und nahm die Kleine in die Arme. Marius und drei andere Jungen beugten sich schon über den Rucksack. Der junge Mann hielt zwei Kekspackungen hoch in die Luft.
»Ich will einen«, schrien die Kinder wild durcheinander.
»Alle kriegen was«, rief der Mann. »Aber ihr müsst euch brav anstellen.«
Die blonde Frau ging los. Für einen Moment fühlte
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