Kammerflimmern
glaube, das müssen meine Vorgesetzten entscheiden. Dürfen wir Sie wieder anrufen?«
»Natürlich.«
»Haben Sie eine Durchwahl?«
Der Mann leierte eine Mobilnummer herunter, und Ola kritzelte sie auf eine Zeitung.
»Danke«, sagte er und beendete das Gespräch.
Er war bisher nicht einmal auf den Gedanken gekommen, dass Erik Berntsen tot sein könnte. Er war durch das Verschwinden verwirrt gewesen, das wurde ihm jetzt klar. Nichts ließ annehmen, dass Berntsen das Krankenhaus gegen seinen Willen verlassen hatte. Er war ein Starrkopf, das wussten alle, und er konnte durchaus beschlossen haben, nicht bis zum Dienstantritt der Morgenschicht zu warten, ehe er sein Bett verließ. Das schöne Wetter konnte ihn bewogen haben, einen Spaziergang zu machen. Am Vorabend hatte er sich stark und gesund gefühlt, behauptete die zuständige Krankenschwester.
Einen Spaziergang machen ...
Erik Berntsen sei beim Dæhlivann gefunden worden, hatte der Kommissar mitgeteilt. Im Wald, mit anderen Worten.
Ola kniff im grellen Sonnenlicht die Lider zusammen.
Das hier war ein Tag für Meer und See. Aber nicht, wenn man siebzig und frisch operiert war.
Um ans Dæhlivann zu gelangen, hatte Professor Berntsen ein Auto gebraucht, dachte er. Das war in seinem Zustand durchaus nicht anzuraten. Nicht anzuraten und außerdem verboten. In wenigen Tagen wäre eine Kopie von Berntsens Diagnosestellung an die zuständige Behörde weitergeleitet worden, und die hätte der Polizei routinemäßig mitgeteilt, dass der Mann nicht mehr die Befähigung zur Führung eines motorisierten Fahrzeugs hatte. Jemand anders musste Erik Berntsen gefahren haben. Der alte Professor war stur und dickköpfig, aber kein Idiot.
Die Jungen draußen spielten weiter Fußball. Der kleine Techniker, der Ola faszinierte, bekam soeben eine Steilvorlage und kickte den Ball in perfektem Flug mitten zwischen die beiden Schilder, die das Betreten der Rasenflächen untersagten.
»8:0«, schrie der Junge und jubelte.
Ola beobachtete den kleinen Ballkünstler und verspürte die übliche Verärgerung darüber, dass er fünf Kinder ohne jegliches Interesse an Fußball gezeugt hatte. Am liebsten hätte er seinen Kittel in eine Ecke geschleudert, um hinauszulaufen und mitzukicken. Aber er musste Sara Zuckerman aufsuchen und ihr berichten, dass ihr Patient tot war. Ihm grauste dermaßen davor, dass er für einen Moment mit dem Gedanken spielte, nach Hause zu fahren.
Stattdessen wandte er sich abrupt vom Fenster weg, riss die halbe Seite der Tageszeitung ab, steckte den Zettel in die Tasche und machte sich auf den Weg zu Kaare Benjaminsen. Wenn er sich danach in ein Labor schlich und ganz viel Glück hätte, würde Sara die Nachricht von jemand anderem erfahren. Wenn er das absolut unerhörte Superglück hätte, würde der Arbeitstag sogar vorübergehen, ohne dass er ihr überhaupt begegnete.
»Träumen ist schließlich erlaubt«, murmelte er und schloss die Tür hinter sich ab.
11.56 a.m.
Upper East Side, Manhattan, NYC
Rebecca hielt das zweite Glas Gin Tonic an diesem Tag in der Hand. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich klar im Kopf und ziemlich nüchtern. Am Morgen war sie im Sessel eingeschlafen. Sie konnte sich nicht an ihren Traum erinnern, hatte aber doch ein vages Gefühl von Sommer, als ein Streifen Sonnenlicht im Gesicht sie jäh geweckt hatte. Sie brauchte einige Sekunden, um zu wissen, wo sie war, was ihr sonst nie Probleme machte. Zwei Stunden Schlaf waren ein Segen, vor allem an einem Tag wie diesem. Nach einem Joghurt und einem starken Drink hatte sie duschen wollen, hatte aber rasch erkannt, dass die Zeit nicht reichte. Im Badezimmer zog sie einige Male die Bürste durch ihre grauen Haare. Ein wenig Schminke auf die Augen. Sie warf einen Blick auf die Zahnbürste, ließ sie aber liegen. Als sie ins Wohnzimmer zurückkehren wollte, sah sie, dass ihre Bluse auf der Brust rot verschmiert war. Sie hatte keine Ahnung, woher dieser rote Streifen stammte. Da sie auch nicht wusste, ob sie noch eine saubere Bluse im Schrank hatte, zog sie einen Burberry-Schal vom Haken hinter der Tür und band daraus eine Schleife, um den Fleck zu verbergen.
Nun saß sie im größten Zimmer vor dem eleganten Rokokosekretär bereit. Auf der ausgeklappten Schreibplatte stand ein iMac, dessen hypermodernes Design den alten Schreibtisch mit seinen Goldornamenten und Blütenranken komisch aussehen ließ. Ihr Sohn hatte ihr den Computer gebracht, so wie er sie mit allem
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