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Kammerflimmern

Kammerflimmern

Titel: Kammerflimmern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Even Anne; Holt Holt
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konnte.
    »Hör auf«, sagte sie nur. »Hör jetzt auf, Orty.«
    Seine Nase wuchs. Sein Gesicht war verzerrt, ein Eiergesicht mit riesigen Augen: »Ich habe seine Achillesferse gefunden!«
    Sie hob langsam den Blick. »Du hast dir ein schönes Leben aufgebaut, Orty. Papa war stolz auf dich. Ich bin es auch. Du brauchst nicht ...«
    »Mama! Mama! Hör mir zu! Ich mache ihn endlich fertig«, sagte Orty. »Ich weiß jetzt, wie ich ihn fertigmachen kann, ich verspreche dir, dass ...«
    »Kennst du die Sage von Achilles?«, unterbrach sie ihn mit scharfer Stimme.
    Orty gab keine Antwort.
    »Achilles war halb Mensch, halb Gott. Er wurde in den Fluss Styx getaucht, um unverletzlich zu werden, aber seine Mutter hatte die Ferse vergessen, an der sie ihn festgehalten hatte. Die Ferse war das Menschliche an ihm. Sie machte ihn verletzlich.«
    Endlich richtete sie den Blick auf die Kamera.
    Jeden Tag, jede Nacht, jede Sekunde, die sie existierte, dachte sie an die vielen falschen Entscheidungen, die sie getroffen hatte. Ein Kind hatten sie sich erlaubt, John und Rebecca, für ein einziges Kind hatten sie in ihrem Leben Platz zu schaffen versucht. Als der Junge geboren wurde, hatte sie ihre Disputation ein halbes Jahr aufschieben müssen und sich über das kleine Wesen geärgert, das sich an ihr festsaugte, bis sie ihm mit fünf Tagen die Flasche aufzwang. Sie hatte Orty und damit sich selbst verraten.
    Nur wenn die Nächte schlimmer gewesen waren als sonst, dachte sie an Otto Schultz.
    Otto hatte die Möglichkeit gehabt, ihr zu helfen. Er hätte sie die richtige Wahl treffen lassen können. Stattdessen hatte er sie in den Abgrund stürzen und John im Fall mitreißen lassen.
    »Otto Schultz hat nichts Menschliches an sich«, sagte sie endlich. »Deshalb hat er auch keine Achillesferse. Vergiss es! Vergiss es!«
6.50 p.m.
Mercury Medical Zentrale, Manhattan, NYC
     
    Der Besprechungsraum im 33. Stock war sechs Monate wegen Renovierung geschlossen gewesen. Nur eine Handvoll Menschen hatte während dieser Zeit Zugang gehabt. Erst an diesem Tag sollten die Türen geöffnet werden, zur ersten Pressekonferenz des Unternehmens, seit der norwegische Staat der große Eigner bei Mercury Medical geworden war.
    Sie hatten an nichts gespart.
    Der Raum hatte sich in eine Aula verwandelt.
    Als Agnes Klemetsen zehn Minuten vor den draußen wartenden Journalisten durch die doppelten Türen geleitet wurde, hätte sie fast nach Luft geschnappt.
    Otto Schultz lächelte und legte ihr die Hand auf den Arm. »Nur das Beste«, flüsterte er vertraulich. »Und jetzt ist das alles hier ...«
    Er zuckte mit den Schultern und lächelte so weiß, dass sie wieder dachte, er müsse sich die Zähne gebleicht haben.
    »... wenn nicht dein Eigentum«, sagte er, »dann doch der deines Landes. Schau mal!«
    Ein riesiger Daumen zeigte nach oben. »Wir haben uns zum 34. Stock durchgeschlagen, um eine Dachhöhe zu erreichen, wie sie sich für die erfolgreichste Firma der Welt gehört.«
    Die Decke war auf eine Weise beleuchtet, die Agnes nicht so ganz begriff. Hinter riesigen Glasflächen, die von Rahmen aus poliertem Stahl getragen wurden, schien das Tageslicht hereinzuströmen. Im Licht gab es eine undefinierbare Bewegung wie unter einer wechselnden sommerlichen Wolkendecke. Da das Gebäude noch über fünfzehn Etagen weiter nach oben ging, konnte es trotzdem nicht der Maitag sein, den sie dort draußen sah. Diagonal unter der Decke, von der westlichen zur östlichen Ecke des riesigen Raumes, verlief eine farbenfrohe Dekoration in einem Stil, den sie zu erkennen glaubte.
    »Magne Furuholmen«, sagte Otto Schultz zufrieden. »Er hat sofort Ja gesagt, als wir ein norwegisches Element brauchten.«
    Der Saal war mindestens vierhundert Quadratmeter groß. Vier Stahlpfeiler trugen die neue Decke. Die Pfeiler standen in einem Quadrat und mit Zwischenräumen von acht bis zehn Metern. Als Agnes Klemetsen ihren Blick einem Pfeiler vom Boden zur Decke folgen ließ, bemerkte sie, dass die Farbe immer wieder wechselte. Soviel sie sehen konnte, war in das Metall kein Lichtfeld eingelassen, und sie konnte auch nirgendwo einen Projektor entdecken.
    »Faszinierend, was?«
    Otto Schultz zwinkerte ihr zu. »Nanotechnologie«, flüsterte er. »Keine Ahnung, wie das funktioniert, aber jedenfalls ist es schön.«
    An diesem Abend war der Saal mit hundert Stühlen vor einem niedrigen Podium eingerichtet. Die Stühle standen ein gutes Stück von der Bühne entfernt, und bei keinem

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