Kammerflimmern
wurde die Sicht durch die leuchtenden Säulen behindert. Als Otto Schultz sie zum nächststehenden Stuhl führte, sah Agnes Klemetsen, dass der einen ausklappbaren LCD-Schirm, ein iPhone-Dock und natürlich eine elegant getarnte Steckdose aufwies. Otto Schultz drückte auf einen Knopf auf der rechten Seite der Stuhllehne und öffnete damit die Tür zu einem kleinen Kühlraum unter dem Sitz. Eine Flasche Mineralwasser mit einem Stielglas kam lautlos aus einem Behälter.
»Ich kann mich noch immer wie ein Junge über so etwas freuen«, sagte Otto Schultz. »Du hättest mal sehen sollen, womit dieser Saal sonst noch möbliert werden kann. Aber in ein paar Minuten werden die Türen für die Presse geöffnet. Also gehen wir doch hinter die Bühne.«
Agnes Klemetsens Augen wanderten von der hintersten Wand, die auf irgendeine Weise aus Wasser bestand, zur Bühne, auf der sie bald Platz nehmen würde und die sich offenbar nicht nur heben und senken, sondern auch einen anderen Winkel annehmen, sich drehen und die Farbe ändern konnte. An beiden Längsseiten des Raumes, gute zwei Meter unter der Decke, verliefen symmetrische Galerien mit Wendeltreppen aus Glas. Das künstliche Tageslicht von oben und das Fehlen von sichtbaren Befestigungen ließen die Zwischenböden aussehen, als schwebten sie in der Luft.
Der gewaltige Saal hatte für einen Moment die Nervosität verdrängt, die sie zu ihrer Überraschung seit dem Morgen quälte. Jetzt setzte die Nervosität wieder ein. Agnes Klemetsen griff sich an die Brust und schluckte.
Das musste Otto Schultz bemerkt haben. Er senkte die Stimme und beugte sich näher zu ihr vor. »Bald werden wir Geschichte schreiben«, sagte er und hielt ihren Blick so fest, dass sie kaum zu blinzeln wagte. »Wir werden auf dieser Bühne sitzen, du, ich, Bill Gates und seine Frau Melinda. Und du, Agnes, wirst dem Rest der Welt die frohe Botschaft übermitteln, dass ein Prozent von Mercury Medicals jährlichem Nettoüberschuss in die Bill and Melinda Gates Foundation und vor allem in die Arbeit zur Verbesserung der Gesundheit von Kindern gespritzt werden wird.«
Seine Stimme hatte etwas Feierliches, und er stand kerzengerade da. Er war sicher dreißig Zentimeter größer als sie. »Gespritzt werden!«, wiederholte er und lachte. »Eine gute Wortwahl für ein Impfprogramm!«
Agnes lächelte gequält. »Gehen wir?«, fragte sie mit einem Hüsteln. »Ich könnte einen Schluck Wasser brauchen, ehe das hier losgeht.«
»Klar«, sagte Otto Schultz und hielt ihr galant die Hand hin. »Aber zuerst musst du noch unsere philanthropischen Freunde kennenlernen.«
Als sie sich bei der Tür zur Bühne ein letztes Mal umdrehte, sah sie, dass die Fernsehsender ihre Kameras schon aufgebaut hatten. Sie standen neben einer Art Spiegelkonstruktion auf der anderen Seite des Saales und waren für sie bisher nicht zu sehen gewesen.
»Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs ...«, zählte sie lautlos.
Fünfzehn Kamerateams.
Hundert angemeldete Journalisten.
Ihr Puls beschleunigte sich dermaßen, dass sie für einen Moment Todesangst hatte. Andererseits, sagte sie sich, könnte es wohl kaum einen besseren Ort geben, falls das Herz plötzlich Probleme machte, als das Hauptquartier von Mercury Medical.
Bei diesem Gedanken musste sie zum ersten Mal seit mehreren Stunden lächeln.
Montag, 4. März 2002
8.32 a.m.
Mercury Medical Zentrale, Manhattan, NYC
Es war so kindisch, dass David Crow die Augen verdrehte, obwohl er allein war. Ihn hier zurückzulassen, in einer fensterlosen Kammer mit offenbar verschlossener Tür, war an sich schon ein Klischee. Er hätte eine hohe Summe darauf wetten mögen, dass Peter Adams bereits vor der Tür stand und nur darauf wartete, dass die Zeit verging. Dass David noch größere Angst bekäme.
Das hier war viel Lärm um nichts.
Sie würden die Polizei nicht rufen.
Die Bullen würden sich zweifellos für eine so große Menge Kokain interessieren. Natürlich würde sich David mithilfe der Staranwälte von Mercury Medical einer Gefängnisstrafe entziehen können. Aber es würde trotzdem einen Höllenlärm geben. Untersuchungshaft und Kaution und Prozess und alles, was weder er noch Mercury brauchten.
Aber Mercury brauchte ihn, so einfach war das.
Als Apollo und Gemini vor Kurzem zu einer Firma mit dem dämlichen Namen Mercury fusioniert hatten – dieses Riesenbaby Otto Schultz hatte eine gigantische Nummer aus dem astronomischen Wortspiel gemacht –, hatte jede der
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