Kammerflimmern
versorgte, außer mit Alkohol. Er kümmerte sich sogar um ihre Kleidung, wenn er drei-, viermal im Jahr die Möglichkeit hatte, sie zu besuchen. Er sammelte die schmutzigen Sachen ein und brachte die Säcke in die Reinigung. Einige Tage nach seiner Abreise wurden die Kleider sauber und gebügelt an die Tür gebracht und mussten vorhalten, bis Orty das nächste Mal auftauchte.
Sie war dankbar, aber diese Maschine konnte sie nicht leiden.
Orty hatte ihr beigebracht, den Computer einzuschalten, im Netz zu surfen, E-Mails zu verschicken und das kleine Symbol zu erkennen, das ihr verriet, dass er sie per Skype zu erreichen versuchte. Ehe alles schiefgegangen war und sie sich im Jahre 2001 vollständig dem Alkohol hingegeben hatte, war sie fast eine Computer-Spezialistin gewesen. Irgendwo in ihrem alkoholisierten Gehirn musste dieses Wissen noch gespeichert sein, denn sie hatte nicht mal eine halbe Stunde gebraucht, um die Benutzung des Apparates zu begreifen.
Skype war aber etwas ganz Neues.
Es gefiel ihr, Orty zu sehen, wenn sie miteinander sprachen, und sie benutzte den Computer zu nichts anderem. Sie brauchte nicht viel über die Welt draußen zu wissen. Orty war der Einzige, dessen E-Mail-Adresse sie kannte, und mehr, als bei den wöchentlichen Gesprächen per Skype erzählt wurde, gab es nicht.
Der Apparat mit seiner schwarzen leeren Fläche machte ihr jedes Mal Angst, wenn sie auf dem Weg zur Küche, wo sie sich zu trinken holte, daran vorbeikam. Sie konnte ihr Spiegelbild darin sehen, wenn das Licht in der Diele brannte. Das Spiegelbild war bläulich und ließ sie aussehen wie ein Gespenst, das durch diese Grabkammer von Wohnung schlurfte.
Auf dem Bildschirm tauchte ein S auf, weiß auf hellblauem Grund.
Rebecca zog den Schal gerade und überzeugte sich davon, dass der Fleck nicht zu sehen war. Mit zitternder Hand nahm sie die Maus und führte den Cursor zu dem kleinen Emblem unten rechts auf dem Bildschirm.
Das Bild flimmerte für einen Moment.
»Hallo, Mama. Wie geht’s dir denn?«
»Ach, du weißt schon.«
Sie lächelte ihren Jungen vorsichtig an. Er sah so gut aus. Seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, mit blonden Haaren und großen blauen Augen. Als kleiner Junge hatte Orty in der Sommersonne kreideweiße Haare gehabt. Noch immer waren sie ungewöhnlich hell, aber vielleicht half der Friseur ja nach. Schön war er jedenfalls, und sie beugte sich zum Bildschirm vor und strich mit der Hand über das kalte Glas.
»Aber Mama.«
Orty lächelte verlegen und ließ sich ein wenig zurücksinken. Sie ließ ihren Finger über seine Nase laufen, seine gerade Nase mit den feinen Flügeln, die sich ausweiteten, wenn er sich konzentrierte. Oder wenn er als Kind traurig gewesen war und versuchte hatte, nicht zu weinen.
»Hast du große Schmerzen?«, fragte Orty und zeigte auf seine Kamera, damit sie in das kleine Auge oben am Bildschirm blickte.
»Ach, du weißt schon.«
Sie setzte sich gerade.
»Heute Morgen konnte ich schlafen«, sagte sie. »Richtig schlafen, das war schön.«
»Fein.«
Dann schwiegen sie beide. Das machte nichts. Rebecca sah ihn gern an. Er kam ihr nah vor, trotz des flachen, kalten Bildes.
»Mama«, sagte Orty endlich. »Ich möchte dir etwas erzählen. Aber es muss zwischen uns bleiben. Etwas Wichtiges.«
Sie lachte heiser und griff zu ihrem Glas. »Alles, was du sagst, bleibt unter uns. Ich rede doch sonst mit niemandem.«
»Du musst rauskommen, Mama. Du hast da draußen immer noch Freunde.«
Rebecca brachte es nicht einmal über sich zu widersprechen. Orty hatte nie begriffen, wie schlecht es ihr wirklich ging, und sie hatte nicht vor, ihn auf den neuesten Stand zu bringen.
»Trinkst du?«, fragte er plötzlich laut. »Trinkst du so früh am Tag schon, Mama?«
»Nicht doch«, sie lächelte und hob ihr Glas. »Das ist Wasser, mein Junge. Pures Wasser.«
Sie leerte das halbe Glas. »Siehst du? Wasser. Was willst du mir erzählen?«
»Ich weiß jetzt, wie ich ihn fertigmachen kann.«
Sie blickte ihm erwartungsvoll in die Augen. Er wirkte plötzlich so viel jünger, mit halb offenem Mund und strahlendem Blick. So war er als Kind immer gewesen, wenn er ihr eine Zeichnung oder sein Zeugnis oder etwas brachte, was er in den ewig langen Sommerlagern gebastelt hatte, in die sie ihn jeden Sommer schickten, obwohl er noch mit über zehn Jahren Bettnässer war. Dieser Blick, dieser Hunger nach Anerkennung, die sie ihm jetzt, so viele Jahre später, nicht mehr geben
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