Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)
immanente Prinzipien, als gleichwertige Konstituenten jeglicher gesellschaftlicher Realität. Denn sogar in diesem Fall können sie vieles offenlegen, was ansonsten unsichtbar bliebe. So beeinflussen sich Imagination und Gewalt definitiv in allen möglichen Bereichen auf vorhersehbare und durchaus entscheidende Weise gegenseitig.
Zunächst möchte ich an dieser Stelle einige Worte über Gewalt sagen und eine relativ schematische Übersicht von Thesen anbieten, die ich an anderer Stelle bereits ausführlicher ausgearbeitet habe:
Teil II: Über Gewalt und imaginative Verlagerung
Ich bin von Beruf Anthropologe und weiß daher, dass anthropologischen Diskussionen über Gewalt in der Regel Erklärungen vorausgeschickt werden, die besagen, dass Gewalthandlungen kommunikative Akte sind, dass sie aus sich selbst heraus Bedeutung gewinnen und dass dies ihr wichtigstes Merkmal ist. Mit anderen Worten, Gewalt funktioniert hauptsächlich über die Vorstellungskraft.
Dies ist natürlich richtig. Kein vernünftiger Mensch würde unterschätzen, welche Bedeutung Angst und Schrecken für das menschliche Leben haben. Gewalthandlungen können kommunikative Akte der einen oder anderen Art darstellen,
und meistens ist dies tatsächlich der Fall. 9 Doch dies gilt im Prinzip für jede Form menschlichen Handelns. Das wirklich Wesentliche an Gewalt ist meiner Meinung nach, dass sie möglicherweise die einzige Form menschlichen Handelns darstellt, durch die es möglich ist, auf andere einzuwirken, ohne gleichzeitig kommunikativ zu handeln. Oder, um es noch präziser auszudrücken: Es ist gut möglich, dass Gewalt die einzige Vorgehensweise ist, durch die ein Mensch das Handeln eines anderen auf relativ vorhersehbare Weise beeinflussen kann, ohne sich auch nur im Geringsten in diese andere Person hineinversetzen zu müssen. Versucht man auf irgendeine andere Weise, auf das Handeln eines anderen einzuwirken, muss man wenigstens eine ungefähre Vorstellung davon haben, für wen sich diese Person hält, was sie über einen denkt, was sie sich von der Situation erhofft sowie eine Vielzahl an ähnlichen Überlegungen. Wenn man ihr allerdings nur fest genug eins überbrät, spielt all das keine Rolle mehr. Natürlich sind die Auswirkungen eines solchen Schlags ziemlich begrenzt. Doch sie sind nichtsdestoweniger deutlich spürbar, und Tatsache bleibt, dass alternative Formen des Handelns nur dann irgendwelche Auswirkungen haben, wenn dabei gleichzeitig auf die eine oder andere Weise an Bedeutungen oder Einsichten appelliert wird, die beide Parteien teilen. Selbst der bloße Versuch, auf eine andere Person durch die Androhung von Gewalt Einfluss zu nehmen, erfordert deutlich weniger gegenseitiges Verständnis als
jede beliebige andere Handlungsoption. Ein gewisses Maß an gegenseitigem Verständnis ist allerdings auch in diesem Fall erforderlich. (Zumindest muss die Gegenpartei verstehen, dass sie bedroht wird und was von ihr verlangt wird.)
Die meisten zwischenmenschlichen Beziehungen sind äußerst kompliziert, überreich an gemeinsam Erlebtem und aufgeladen mit Bedeutung. Dies trifft insbesondere auf dauerhafte Beziehungen zu, wie sie beispielsweise zwischen langjährigen Freunden oder Feinden bestehen. Sie erfordern fortwährende und häufig subtile Deutungsarbeit; jeder Beteiligte muss permanent Energie darauf verwenden, sich den Blickwinkel des jeweils anderen vorzustellen. Anderen jedoch einfach damit zu drohen, dass man ihnen körperlichen Schaden zufügt, ist der sehr viel kürzere Weg. Er ermöglicht sehr viel holzschnittartigere Beziehungen von der Art »Wenn du diese Grenze überschreitest, werde ich dich erschießen, und ansonsten ist es mir völlig egal, wer du bist oder was du willst.« Dies ist auch beispielsweise der Grund dafür, dass Gewalt so häufig die bevorzugte Waffe der Dummen ist: Man könnte fast sagen, es ist die Trumpfkarte der Dummen, denn es ist diejenige Form von Dummheit, auf die am schwersten eine intelligente Antwort gefunden werden kann.
Eine entscheidende Einschränkung muss in diesem Zusammenhang jedoch vorgebracht werden: All dies gilt umso weniger, je ausgewogener zwei Parteien in Bezug auf ihr Gewaltpotenzial sind. Wenn zwei Parteien in eine relativ ausgeglichene gewaltsame Auseinandersetzung verwickelt sind, hilft es natürlich, so viel wie möglich über den anderen zu wissen. Ein Feldherr wird stets versuchen, die Gedankengänge seines Gegners zu erahnen. Zwei Duellanten oder Boxer werden alles
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