Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)
erreicht, dass Gewalt letztlich die Parameter der gesellschaftlichen Existenz und des Common Sense bestimmt.
Die Linke wiederum hat sich schon immer auf ganz andere Annahmen darüber, was letztlich real ist – und damit über die Grundbefindlichkeit des politischen Seins –, berufen. Ganz offensichtlich leugnen Linke nicht die Realität von Gewalt. Zahlreiche linke Theoretiker setzen sich sogar eingehend damit auseinander. Doch normalerweise räumen sie der Gewalt nicht denselben grundlegenden Status ein, wie die Rechte dies tut. 7 Stattdessen, so will ich behaupten, beruht linkes Denken auf einer »politischen Ontologie der Imagination«, wie ich es nennen möchte. (Genauso gut hätte ich es eine Ontologie der Kreativität, des Erschaffens oder der Erfindung nennen können. 8 )
Heutzutage wird diese Anschauung zumeist mit dem Erbe von Marx gleichgesetzt, dessen Fokus ja auf der sozialen Revolution und den materiellen Produktivkräften lag. Doch selbst Marx war letztlich nur ein Mensch seiner Zeit, und so haben sich auch seine Begrifflichkeiten im Grunde aus sehr viel breiter angelegten Diskussionen über Wert, Arbeit und Kreativität heraus entwickelt, die seinerzeit in den radikalen Zirkeln gängig waren. Sie entstammten einerseits der Arbeiterbewegung, aber auch Strömungen innerhalb der Romantik und ebenso dem Boheme-Leben, das damals um ihn herum in Paris und London erblühte. Obwohl Marx für die utopischen Sozialisten seiner Zeit nur Verachtung übrig hatte, vertrat er zeit seines Lebens die Ansicht, dass der Unterschied zwischen Menschen und Tieren darin bestehe, dass ein Baumeister, anders als eine Biene, ein Bauwerk zuerst in der Vorstellung errichte. Dass Menschen sich zunächst Dinge vorstellen und diese dann erst erschaffen, war für Marx eine spezifisch menschliche Eigenschaft. Genau diesen Prozess bezeichnete er als »Produktion«.
Etwa zur gleichen Zeit forderten utopische Sozialisten wie Saint-Simon, dass Künstler die Vorhut beziehungsweise, wie er es nannte, die Avantgarde einer neuen gesellschaftlichen Ordnung werden sollten. Sie sollten die großen Visionen entwerfen, welche die Industrie inzwischen verwirklichen konnte. Was damals noch das Hirngespinst eines exzentrischen
Pamphletisten zu sein schien, wurde bald zur Gründungsurkunde einer sporadisch auftretenden, ungewissen, doch anscheinend dauerhaften Allianz, die bis zum heutigen Tag anhält. Künstlerische Avantgarden und Sozialrevolutionäre verspüren seitdem eine spezielle Affinität füreinander, was etwa daran deutlich wird, dass sie Begrifflichkeiten und Ideen voneinander übernehmen. Diese Verbundenheit scheint insofern begründet, als beide nach wie vor glauben, die letztendliche, verborgene Wahrheit über die Welt laute: Die Welt ist etwas, das wir erschaffen, und genauso gut anders erschaffen könnten. In diesem Sinne drückt ein Satz wie »Fantasie an die Macht« genau das aus, worin die Quintessenz der Linken besteht.
Diese Betonung der Kreativ- und Produktionskräfte wertet die Rechte natürlich als gedankliche Nachlässigkeit. Sie wirft den Revolutionären vor, die gesellschaftliche und historische Relevanz der »Instrumente der Zerstörung« systematisch außer Acht zu lassen. Man könne nicht einfach so tun, als gäbe es keine Staaten, Armeen, Scharfrichter, Barbareninvasionen, Kriminelle, aufrührerische Mengen und so weiter. Genauso wenig könne man sie einfach wegwünschen. Dies garantiere lediglich, dass linke Herrschaftssysteme letztlich viel mehr Tod und Zerstörung verursachen als jene, die klug genug sind, einen »realistischeren« Ansatz zu wählen.
Es ist offensichtlich, dass die von mir beschriebene Dichotomie eine grobe Vereinfachung ist. Man könnte natürlich zahllose Unterscheidungen treffen. So brachte beispielsweise die Bourgeoisie zu Marx’ Zeit eine äußerst produktive Philosophie hervor, was ein Grund dafür war, dass Marx sie sich als revolutionäre Kraft vorstellen konnte. Des Weiteren gab es rechtsgerichtete Elemente, die sich oberflächlich mit dem
künstlerischen Ideal befassten, während marxistische Regime des 20. Jahrhunderts bereitwillig rechte Machttheorien übernahmen und häufig wenig mehr als ein Lippenbekenntnis ablegten, was den determinierenden Charakter der Produktion betraf. Dennoch bin ich der Meinung, dass es sich um nützliche Begriffe handelt, selbst wenn man »Imagination« und »Gewalt« nicht als die eine verborgene Wahrheit über die Welt ansieht, sondern als
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