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Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)

Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)

Titel: Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Graeber
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kreatives Schreiben unterrichten, besteht darin, die Schüler einen Text schreiben zu lassen, in dem sie sich vorstellen, wie es wäre, einen Tag lang in das jeweils andere Geschlecht zu schlüpfen. Das Ergebnis dieser Aufgabe fällt praktisch immer gleich aus: Alle Mädchen in der Klasse verfassen lange und ausführliche Aufsätze, die zeigen, dass sie sich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt haben, und etwa die Hälfte der Jungen weigert sich, einen solchen Text überhaupt zu verfassen. Nahezu ausnahmslos äußern sie ihren geballten Unmut darüber, sich vorstellen zu müssen, wie es wäre, eine Frau zu sein.
    Ähnlich gelagerte Beispiele lassen sich unschwer finden. Wenn beispielsweise in der Küche eines Restaurants etwas schiefgeht und der Chef auftaucht, um zu sehen, was los ist, wird er vermutlich den Angestellten, die alle durcheinanderrufen und ihre Version der Geschichte erzählen wollen, wenig Aufmerksamkeit zollen. Höchstwahrscheinlich wird er sie anbrüllen, sie sollen den Mund halten, und einfach willkürlich darüber befinden, was seiner Meinung nach passiert sein muss: »Du bist neu hier, wahrscheinlich hast du es verbockt. Wenn das noch einmal vorkommt, schmeiß ich dich raus.« Ganz anders diejenigen, die nicht die Macht haben, andere
willkürlich zu feuern: Sie müssen sich tatsächlich die Mühe machen und herausbekommen, was passiert ist. Was im Kleinen und auf persönlicher Ebene vorkommt, trifft jedoch auch auf die Gesellschaft als Ganzes zu. Interessanterweise hat Adam Smith in seiner Theorie der ethischen Gefühle (1759) als Erster auf einen Umstand aufmerksam gemacht, der heutzutage als »Mitgefühlserschöpfungssyndrom« bezeichnet wird. Er stellte fest, dass Menschen eine angeborene Neigung dazu haben, sich nicht nur in ihrer Vorstellung mit ihren Mitmenschen zu identifizieren, sondern auch, als Folge hiervon, die Freude und den Schmerz von anderen tatsächlich nachzuempfinden. Ist jemand allerdings arm, befindet er sich ununterbrochen in einem elenden Zustand, sodass es dem Betrachter zu viel wird und er schon aus Selbstschutz dazu neigt, diesen gar nicht zu beachten. Folglich verwenden diejenigen am unteren Ende der Gesellschaft sehr viel Zeit darauf, sich die Situation und Sichtweise derjenigen am oberen Ende vorzustellen und sich auch tatsächlich dafür zu interessieren, während dies umgekehrt fast nie vorkommt.
    Genau darum geht es mir in Wirklichkeit. Unabhängig davon, welche Mechanismen in diesem Zusammenhang zum Tragen kommen, zeigt sich stets dasselbe Muster, ganz gleich, ob es sich um die Beziehung zwischen Herren und Dienern, zwischen Männern und Frauen, Chefs und Angestellten oder Reichen und Armen handelt. Strukturelle Ungleichheit – beziehungsweise strukturelle Gewalt – bringt stets die gleichen unausgewogenen Strukturen der Imagination hervor. Und da mit der Vorstellungskraft, wie Smith richtig beobachtet hat, in der Regel Mitgefühl einhergeht, neigen die Opfer struktureller Gewalt eher dazu, sich um ihre Nutznießer zu sorgen. Oder zumindest interessieren sie sich mehr für diese, als umgekehrt die Nutznießer sich für jene interessieren. Dies könnte sogar
(abgesehen von der Gewalt selbst) der stärkste Faktor sein, der derartige Beziehungen aufrechterhält. 10
    Bürokratische Abläufe können unschwer als Erweiterung dieses Phänomens angesehen werden. Sie stellen nicht selbst Formen der Dummheit und Ignoranz dar, sondern können vielmehr als Wege zur Ausgestaltung von Situationen aufgefasst werden, die aufgrund des Vorhandenseins struktureller Gewalt von vornherein von Dummheit und Ignoranz geprägt sind. Es stimmt natürlich, dass bürokratisches Prozedere funktioniert, als wäre es eine Form der Dummheit. Denn es missachtet ausnahmslos sämtliche Nuancen der realen menschlichen Existenz und reduziert alles auf einfache, zuvor festgelegte mechanische oder statistische Formeln. Gleich, ob es sich um Formulare, Regeln, Statistiken oder Fragebogen handelt, Bürokratie beruht immer auf Vereinfachung. Daher ist die Wirkung letztlich auch gar nicht so verschieden wie in der zuvor angenommen Situation, in der der Chef plötzlich hereinkommt und eine willkürliche, vorschnelle Entscheidung darüber fällt, was genau schiefgegangen ist: Auch in diesem Fall geht es um die Anwendung äußerst simpler Schemata auf komplexe, uneindeutige Situationen.
    Gleiches gilt im Prinzip auch für die Polizei, denn Polizisten sind lediglich kleine Beamte, die Schusswaffen

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