Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)
daransetzen, den nächsten Schritt ihres Gegenübers vorauszusehen. Nur wenn eine Seite über eine überwältigende Überlegenheit
verfügt, was das Zufügen körperlicher Schäden angeht, trifft dies nicht mehr zu. In diesem Fall muss die überlegene Partei den anderen häufig gar nicht erschießen, verprügeln oder in die Luft sprengen, da die bloße Drohung bereits ausreicht. Daraus ergibt sich folgender erstaunlicher Umstand: Die charakteristischste Eigenschaft der Gewalt ist, dass sie einen befähigt, äußerst einfach gestrickte soziale Beziehungen durchzusetzen, die nur wenig oder gar kein Einfühlungsvermögen beziehungsweise imaginative Identifikation erfordern. Interessanterweise tritt dieses typische Merkmal von Gewalt am deutlichsten in Situationen hervor, die zwar durch die Möglichkeit von Gewalt geprägt sind, in denen jedoch tatsächliche körperliche Gewalt mit hoher Wahrscheinlichkeit überhaupt nicht angewandt wird.
Eine solche Situation wird üblicherweise als strukturelle Gewalt bezeichnet: Gemeint sind damit all jene systembedingten Ungleichheiten, die letztlich durch die Androhung von Gewalt aufrechterhalten werden und daher als eigene Form der Gewalt angesehen werden können. Wie Feministinnen seit langem betonen, bringen derartige strukturelle Gewaltsysteme unweigerlich extrem einseitige Strukturen der imaginativen Identifikation hervor. Dies heißt nicht, dass überhaupt keine Deutungsarbeit erfolgt. Eine Gesellschaft, die eine als solche erkennbare Form besitzt, könnte ohne derartige interpretative Anstrengungen überhaupt nicht funktionieren. Allerdings wird der weitaus größte Teil dieser Deutungsarbeit den Opfern aufgebürdet.
Werfen wir zunächst einen Blick auf den typischen patriarchalen Haushalt. Ein ständig wiederkehrendes Element amerikanischer Fernsehserien der 1950er Jahre sind Witze über die Unmöglichkeit, Frauen zu verstehen. Diese Witze werden natürlich stets von Männern gemacht; weibliche Logik
wird darin prinzipiell als etwas Fremdes und Unverständliches dargestellt. Demgegenüber hat man in diesen Serien jedoch nie den Eindruck, dass Frauen sich besonders schwer damit täten, die Männer zu verstehen. Dies liegt darin begründet, dass Frauen schlicht keine andere Wahl hatten, als Männer zu verstehen: Die wenigsten Frauen verfügten damals über ein eigenes Einkommen oder eigene Ressourcen, daher mussten sie gezwungenermaßen einen Großteil ihrer Zeit und ihrer Energie darauf verwenden, sich zu erschließen, was die wichtigen Männer in ihrem Leben dachten. Diese Art, über weibliche Mysterien zu sprechen, ist somit ein typisches Merkmal patriarchaler Familien. Denn diese sind geprägt von Strukturen, die man ohne Weiteres als Formen struktureller Gewalt ansehen kann. Die Macht, die Männer innerhalb dieser Familien über Frauen besitzen, beruht letztlich auf allen möglichen Arten von Zwang oder Gewalt, auch wenn sich dies häufig nur in indirekter oder verborgener Weise bemerkbar macht. Darauf haben bereits Generationen von Feministinnen hingewiesen. Generationen von Schriftstellerinnen wiederum – hier kommt einem natürlich unweigerlich Virginia Woolf in den Sinn – haben außerdem die Kehrseite dieses Umstands dokumentiert: Gemeint sind die dauernden Anstrengungen, die Frauen unternehmen, um das Selbstwertgefühl von Männern aufzubauen, zu erhalten und zu formen, während diese davon noch nicht einmal etwas mitzubekommen scheinen. Dazu bedarf es natürlich endloser Bemühungen, um eine imaginative, d.h. sich in der eigenen Vorstellungskraft abspielende, Identifikation mit dem anderen zu erreichen. Des Weiteren ist eine enorme Deutungsarbeit, wie ich es genannt habe, erforderlich. Dies überträgt sich auf alle möglichen Ebenen. So stellen Frauen sich stets vor, wie eine Situation aus männlicher Sicht bewertet werden könnte. Männer tun dies umgekehrt fast nie.
Dies ist vermutlich der Grund dafür, dass in so vielen Gesellschaften, in denen eine klare geschlechtsspezifische Arbeitsteilung existiert (d.h. in den allermeisten Gesellschaften), Frauen eine sehr deutliche Vorstellung davon haben, was Männer den ganzen Tag über tun, während Männer umgekehrt praktisch keine Ahnung haben, was eine Frau tagsüber so alles macht. Viele schrecken entsetzt zurück, wenn sie sich nur vorstellen sollen, wie der Alltag einer Frau und ihre Sicht auf die Welt im Allgemeinen aussehen könnte. Ein beliebter Trick von Lehrern, die an amerikanischen High Schools
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