Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)
Arbeit entfremdet zu sein, der Eindruck, dass sogar ihre Handlungen einem anderen gehören. Des Weiteren können dadurch gesellschaftliche Situationen entstehen, in denen Könige, Politiker, Prominente oder CEOs blind für alles in ihrer Umgebung herumstolzieren, während ihre Ehefrauen, Bedienstete, Mitarbeiter und persönlichen Berater voll und ganz mit der imaginativen Arbeit beschäftigt sind, jene weiter in ihren Fantasiewelten leben zu lassen. Ich vermute, dass die meisten von Ungleichheit geprägten Situationen Elemente aus beidem beinhalten. 12
Die subjektive Erfahrung, innerhalb derart unausgewogener Strukturen der Imagination zu leben, entspricht genau jenem Zustand, den wir mit »Entfremdung« meinen.
Diese Perspektive könnte meiner Meinung nach zumindest teilweise erklären, warum Theorien über Entfremdung in revolutionären Kreisen eine so nachhaltige Anziehungskraft ausüben, obwohl die akademische Linke sich schon seit längerem nicht mehr damit beschäftigt. Betritt man etwa einen anarchistischen Infoladen fast überall auf der Welt, wird man dort unter den französischsprachigen Autoren mit großer Wahrscheinlichkeit vor allem auf Situationisten wie etwa Guy Debord und Raoul Vaneigem stoßen, die großen Theoretiker der Entfremdung, neben Theoretikern der Imagination wie
Cornelius Castoriadis. Lange Zeit war es mir ein Rätsel, weshalb so viele amerikanische Teenager aus der Mittelschicht beispielsweise fasziniert sind von Raoul Vaneigems Buch Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen , einem Werk, das immerhin vor fast vierzig Jahren in Paris verfasst wurde. Der Grund ist meiner Meinung nach folgender: Vaneigems Buch verleiht auf exemplarische Weise dem Gefühl von Zorn, Langeweile und Ekel theoretischen Ausdruck, das fast jeder Jugendliche irgendwann empfindet, wenn er mit dem Dasein der Mittelschicht konfrontiert wird. Das Gefühl, dass das Leben in Bruchstücke zersplittert ist, ohne dass es einen letztlichen Sinn oder eine Intaktheit geben kann; dass ein zynisches Marktsystem seinen Opfern Waren und Spektakel verkauft, die selbst wieder nur winzige falsche Abbilder jenes Gefühls der Totalität und des Vergnügens und jenes Gemeinschaftssinns darstellen, die der Markt in Wirklichkeit zerstört hat; der Hang, aus jeder Beziehung eine Form des Austauschs zu machen oder das Leben zugunsten des »Überlebens«, das Vergnügen zugunsten des Verzichts, die Kreativität zugunsten von hohlen, homogenen Machteinheiten oder »toter Zeit« zu opfern – in gewisser Weise gilt all dies immer noch.
Die Frage ist allerdings, warum. Die heutige Gesellschaftstheorie bietet diesbezüglich kaum Antworten. Der Poststrukturalismus, der unmittelbar nach 1968 aufgekommen war, entwickelte sich großteils aus einer Ablehnung dieser Art von Analyse. Inzwischen besteht unter Sozialtheoretikern durchweg Einigkeit darüber, dass man eine Gesellschaft nur dann als »unnatürlich« beschreiben kann, wenn man davon ausgeht, es könne eine natürliche Daseinsform der Gesellschaft geben. »Unmenschlichkeit« kann es analog nur geben, wenn man eine authentische menschlichen Essenz voraussetzt, und genauso wenig kann man davon sprechen, dass das Selbst »fragmentiert«
ist, denn dazu müsste es möglich sein, ein intaktes Selbst zu besitzen, und so weiter. Da derartige Positionen nicht haltbar sind – da es keinen natürlichen Zustand der Gesellschaft gibt, genauso wenig wie eine authentisch menschliche Essenz oder ein einheitliches Selbst –, entbehren Theorien der Entfremdung jeglicher Grundlage. Rein argumentativ betrachtet, sind diese Einwände nur schwer zu widerlegen. 13 Doch wie erklären wir uns dann die Entfremdungserfahrung?
Wenn man allerdings genauer darüber nachdenkt, ist dieses Argument weitaus weniger schlagkräftig, als es zunächst den Anschein hat. Denn was behaupten die akademischen Theoretiker im Grunde? Sie versichern, dass die Idee eines einheitlichen Subjekts, einer intakten Gesellschaft oder einer natürlichen Ordnung nicht real sei. Dass es sich bei alldem lediglich um Auswüchse unserer Fantasie handle. Das ist natürlich richtig, doch was sollte es auch sonst sein? Und warum stellt dies überhaupt ein Problem dar? 14 Wenn die Imagination wirklich
ein konstitutives Element innerhalb des Prozesses darstellt, durch den wir unsere gesellschaftlichen und materiellen Realitäten erzeugen, so spricht alles für die Annahme, dass dieser Vorgang über die Erzeugung von Bildern der
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