Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)
nämlich, dass zu bestimmten Zeitpunkten in der Menschheitsgeschichte genau dies geschehen war. Aus meiner Sicht müssen wir daher, wenn wir diese neu aufkommende Revolutionsauffassung je verstehen wollen, nochmals über die Beschaffenheit jener aufständischen Momente nachdenken.
Einer der erstaunlichsten Aspekte solcher Momente ist, dass sie scheinbar aus dem Nichts heraus auflodern können – und sich dann häufig auch genauso schnell wieder verflüchtigen. Wie ist es möglich, dass dieselbe »Öffentlichkeit«, die zwei Monate vor, sagen wir einmal, der Pariser Kommune oder dem Spanischen Bürgerkrieg in einem relativ gemäßigten sozialdemokratischen Regime zur Wahl gegangen war, sich plötzlich dazu bereit sah, ihr Leben für dieselben Ultraradikalen zu riskieren, auf die zuvor nur ein Bruchteil der abgegebenen Stimmen entfallen war? Oder, um noch einmal auf den Mai 1968 zurückzukommen, wie kann es sein, dass dieselbe Öffentlichkeit, die den Aufstand der Studenten beziehungsweise Arbeiter scheinbar unterstützte oder zumindest Verständnis dafür hatte, fast unmittelbar danach dem Ruf an die Wahlurnen folgte und eine rechte Regierung wählte?
Die gängigste historische Erklärung hierfür ist, dass die Revolutionäre ja nicht die Öffentlichkeit oder deren Interessen vertreten hätten; vielmehr seien Elemente der Öffentlichkeit eventuell einer Art irrationalen Begeisterung erlegen. Diese Erklärung ist jedoch offensichtlich unzureichend. Zunächst geht sie von der Annahme aus, dass es sich bei »der Öffentlichkeit« um ein Gebilde handelt, dessen Meinungen, Interessen und Loyalitäten im zeitlichen Verlauf als relativ gleichbleibend angesehen werden können. Was wir »die Öffentlichkeit« nennen, wird in Wirklichkeit erst geschaffen beziehungsweise durch spezifische Institutionen erzeugt, die spezifische Handlungsformen – das Durchführen von Umfragen, fernsehen, wählen gehen, bei Unterschriftenaktionen mitmachen, Briefe an gewählte Volksvertreter schreiben oder an öffentlichen Anhörungen teilnehmen – gestatten, andere dagegen nicht. Diese verschiedenen Handlungsrahmen ziehen
jeweils bestimmte Arten des Redens, Denkens, Diskutierens, Reflektierens nach sich. Dieselbe »Öffentlichkeit«, die vielleicht in ihrer Freizeit regelmäßig zu Drogen greift, kann sich genauso regelmäßig an der Wahlurne dafür aussprechen, dass solche Vergnügungen illegal bleiben. Dieselbe Ansammlung von Bürgern wird mit großer Wahrscheinlichkeit zu völlig unterschiedlichen Entscheidungen in Bezug auf gemeinschaftliche Angelegenheiten kommen, je nachdem, ob sie im Rahmen eines parlamentarischen Systems, eines Systems computergestützter Volksentscheide oder einer Reihe von aufeinander aufbauenden öffentlichen Versammlungen organisiert ist. Im Grunde beruht das gesamte anarchistische Projekt der Neuerfindung der direkten Demokratie auf der Annahme, dass dies der Fall ist.
Um zu verdeutlichen, was ich hiermit meine, möchte ich nur einmal vor Augen führen, dass beispielsweise in Amerika dieselbe Ansammlung von Leuten in einem Kontext als »die Öffentlichkeit«, in einem anderen wiederum als »die Erwerbsbevölkerung« bezeichnet werden kann. Sie werden natürlich dann zur »Erwerbsbevölkerung«, wenn sie sich verschiedenen Arten von Tätigkeiten widmen. Die »Öffentlichkeit« jedoch arbeitet natürlich nicht – zumindest würde ein Satz, der in etwa lautet »Ein Großteil der amerikanischen Öffentlichkeit arbeitet in der Dienstleistungsbranche«, nie in einer Zeitschrift oder einer Zeitung auftauchen. Würde ein Journalist einen solchen Satz verfassen, würde sein Chefredakteur ihn mit Sicherheit umformulieren. Dies ist jedoch eigentlich unlogisch; die Öffentlichkeit muss ja anscheinend durchaus arbeiten gehen. Darum heißt es in den Medien auch immer, wie von linken Kritikern häufig beklagt wird, dass beispielsweise im Falle eines Streiks im öffentlichen Nahverkehr die Öffentlichkeit in ihrer Rolle als Pendler Behinderungen hinnehmen muss. Es
kommt den Medien nie in den Sinn, dass die Streikenden selbst Teil der Öffentlichkeit sind. Genauso wenig wird bedacht, dass es ja der Öffentlichkeit im Grunde zugute kommt, wenn die Streikenden erfolgreich Lohnerhöhungen durchsetzen können. Und natürlich geht die »Öffentlichkeit« auch nie auf die Straße. Ihre Rolle besteht darin, bei öffentlichen Spektakeln als Zuschauer zu fungieren und öffentliche Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Wenn
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