Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)
Macht einzuräumen.
Aufgrund von strukturellen Ungleichheiten spaltet sich die Gesellschaft tendenziell in Menschen auf, die imaginative Arbeit vollbringen, und jene, die keine derartigen Anstrengungen auf sich nehmen müssen. Die Beziehung zwischen Gewalt und Imagination wird noch komplizierter dadurch, dass sich diese Ungleichheiten auf sehr unterschiedliche Weise auswirken. Der Kapitalismus ist ein drastisches Beispiel hierfür. Die Volkswirtschaftslehre betrachtet die Arbeit in kapitalistischen Gesellschaften als zwei unterschiedlichen Sphären zugehörig: zum einen die Lohnarbeit, deren Paradigma immer Fabriken sind, zum anderen häusliche Arbeit – Hausarbeit, Kinderbetreuung –, die vor allem den Frauen aufgebürdet wird. Erstere kann vorrangig beschrieben werden als das Hervorbringen und Erhalten von physischen Objekten. Letzteres lässt sich vermutlich am treffendsten als das Hervorbringen und Erhalten von Menschen und sozialen Beziehungen charakterisieren. Augenscheinlich ist diese Unterscheidung in gewissem Sinne eine Karikatur: Noch nie hat es eine Gesellschaft gegeben, in
der die meisten Männer als Fabrikarbeiter oder die meisten Frauen als Hausfrauen tätig waren, nicht einmal in Manchester zur Zeit von Engels oder in Paris zur Zeit von Victor Hugo. Dennoch ist dies ein sinnvoller Ausgangspunkt, da dadurch eine interessante Divergenz aufgedeckt wird. In der Sphäre der Industrie sind es im Allgemeinen jene an der Spitze der Hierarchie, die sich selbst die fantasievolleren Aufgaben zuweisen (d.h. diejenigen, die die Produkte konzipieren und die Produktion organisieren). 11 Wenn sich allerdings in der Sphäre der so genannten sozialen Produktion Ungleichheiten herausbilden, sind es jene am unteren Ende der Hierarchie, von denen erwartet wird, dass sie den überwiegenden Teil der imaginativen Arbeit leisten (beispielsweise den Großteil der »Deutungsarbeit«, wie ich es genannt habe, die dafür sorgt, dass das Leben seinen Gang geht).
Angesichts all dieser Überlegungen kann man zweifellos leichter erkennen, dass es sich hierbei um zwei grundlegend verschiedene Arten von Aktivitäten handelt. Dadurch fällt es allerdings schwer, beispielsweise die so genannte Deutungsarbeit oder auch die meisten sonstigen Tätigkeiten, die üblicherweise als typische Frauenarbeit gelten, überhaupt als Arbeit anzuerkennen. Dies halte ich für unangemessen. Meiner Meinung nach sollte diese Art von Tätigkeit vielmehr als die primäre Form von Arbeit betrachtet werden. Insofern, als hier eine klare Unterscheidung getroffen werden kann, sollte gerade die Sorge, die Energie und die Arbeit, die sich an andere Menschen richtet, als fundamental angesehen werden. Was uns am meisten am Herzen liegt – das, was wir lieben, unsere Leiden-schaften,
Rivalitäten und Obsessionen –, sind stets andere Menschen. In den meisten Gesellschaften, die keine kapitalistischen Gesellschaften sind, gilt es als selbstverständlich, dass die Herstellung von materiellen Gütern nur ein untergeordnetes Element innerhalb eines größeren Prozesses der Formung von Menschen darstellt. Ich möchte behaupten, dass einer der entfremdendsten Aspekte des Kapitalismus gerade darin besteht, dass er uns dazu zwingt, so zu tun, als wäre es genau umgekehrt und als würden Gesellschaften vorrangig deshalb existieren, um ihren Produktionsausstoß zu erhöhen.
Teil III: Über Entfremdung
Weniger der Tod widert die Menschen
des 20. Jahrhunderts an, als die Abwesenheit eines
wahren Lebens. Jede leblose, mechanisierte,
spezialisierte Geste nimmt hundert-, tausendmal
am Tag ein Stück Leben fort, bis zur Erschöpfung
von Geist und Körper, bis zu einem Ende, das nicht
das Ende des Lebens ist, sondern Abwesenheit,
die ihren Sättigungsgrad erreicht hat.
RAOUL VANEIGEM,
Handbuch der Lebenskunst für
die jungen Generationen
Kreativität und Begehren – was wir in volkswirtschaftlichen Zusammenhängen häufig auf »Produktion« und »Konsum« reduzieren – sind im Grunde genommen Vehikel der Vorstellungskraft. Strukturen der Ungleichheit und der Herrschaft, strukturelle Gewalt, wenn man so will, führen tendenziell zu einer Verzerrung der Vorstellungskraft. Zuweilen bringen sie
auch Situationen hervor, in denen Arbeitern geisttötende, langweilige, mechanische Aufgaben zugewiesen werden, während es lediglich einer kleinen Elite erlaubt ist, sich fantasievoller Arbeit zu widmen. Dadurch erwächst in den Arbeitern das Gefühl, von ihrer eigenen
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