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Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)

Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)

Titel: Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Graeber
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dieselbe Ansammlung von Individuen privat angebotene Güter oder Dienstleistungen kauft beziehungsweise nutzt, ändert sich ihr Status erneut (sie werden zu »Konsumenten«). In anderen Handlungskontexten wiederum werden sie als »Nation«, »Wählerschaft« oder »Bevölkerung« tituliert.
    Hervorgebracht werden all diese Gebilde durch Institutionen sowie institutionelle Praktiken, die wiederum bestimmte Möglichkeitshorizonte vorgeben. Daher kommt es, dass man etwa bei Parlamentswahlen das Gefühl hat, man müsse »realistisch« wählen, während hingegen im Rahmen einer aufständischen Situation plötzlich alles möglich scheint.
    In einem Großteil der neueren revolutionären Theorie geht es im Wesentlichen um die Frage: Zu was genau wird eine Ansammlung von Menschen während solcher aufständischen Momente? In den letzten Jahrhunderten lautete die Antwort stets »zu einem Volk«. So führen alle neuzeitlichen Rechtssysteme ihre Legitimation letztlich auf Momente der »konstituierenden Macht« zurück, in denen sich das Volk, zumeist bewaffnet, erhoben hatte, um eine neue verfassungsmäßige Ordnung zu schaffen. Das Paradigma des Aufstands ist in der Idee des modernen Staats zutiefst verwurzelt. Etliche europäische Theoretiker haben nun in dem Bewusstsein, dass sich die theoretischen Positionen verlagert haben, einen neuen Begriff vorgeschlagen, den der »Multitude« oder »Menge«. Gemeint
ist damit keine Masse von Individuen, sondern ein Netzwerk kooperativer Beziehungen, das schon per definitionem nicht zur Grundlage eines neuen bürokratischen oder Nationalstaats werden kann. Dieses Projekt ist jedoch meiner Ansicht nach zutiefst ambivalent.
    Im Rahmen der von mir entwickelten Begrifflichkeiten haben Ausdrücke wie »die Öffentlichkeit«, »die Erwerbsbevölkerung«, »Verbraucher« oder »die Bevölkerung« eins gemeinsam: Sie werden durch institutionalisierte Handlungsrahmen hervorgebracht, die von Natur aus bürokratisch und aus diesem Grund zutiefst entfremdend sind. Man betrachte nur einmal Wahlkabinen, Fernsehbildschirme, Großraumbüros, Krankenhäuser sowie die Rituale, die mit all dem einhergehen  – all dies kann als veritable Maschinerie der Entfremdung bezeichnet werden. Dies sind die Instrumente, durch welche die menschliche Fantasie zerstört und zerschmettert wird. Aufständische Momente hingegen sind Momente, in denen dieser bürokratische Apparat neutralisiert wird. Dies hat stets den gleichen Effekt: Möglichkeitshorizonte stehen auf einmal weit offen. Das überrascht insofern nicht, als eine der Hauptfunktionen dieses Apparats darin besteht, äußerst beschränkte Möglichkeitshorizonte zu erzwingen. (Vermutlich machen Menschen deshalb während Naturkatastrophen häufig ganz ähnliche Erfahrungen, wie Rebecca Solnit so wunderbar beschrieben hat.) Es würde auch erklären, warum auf revolutionäre Momente meist ein Ausbruch sozialer, künstlerischer und intellektueller Kreativität folgt. Normalerweise unausgeglichene Strukturen der imaginativen Identifikation werden zerschlagen; alle probieren aus, wie es ist, die Welt aus einem fremden Blickwinkel heraus zu betrachten. Gleichzeitig empfindet jeder, dass er nicht nur das Recht dazu hat, alles um sich herum neu zu
erschaffen und sich neu vorzustellen, sondern geradezu ein unmittelbares konkretes Verlangen danach. 16
    Dies erklärt, warum der Prozess der Umbenennung ambivalent zu bewerten ist. Einerseits ist es nur zu verständlich, dass diejenigen, die radikale Forderungen stellen, gerne wissen wollen, in wessen Namen sie dies tun. Andererseits, wenn
meine Thesen richtig sind, gleicht das ganze Projekt, das darin besteht, erst eine revolutionäre »Multitude« heraufzubeschwören und dann nach den dynamischen Kräften zu suchen, die ihr zugrunde liegen, sehr dem ersten Schritt eines Institutionalisierungsprozesses, der letztendlich zwangsläufig genau das vernichtet, was er eigentlich feiert. Subjekte (Öffentlichkeiten, Völker, Erwerbsbevölkerungen …) werden durch spezifische institutionelle Strukturen hervorgebracht, die im Wesentlichen Handlungsrahmen darstellen. Sie sind, was sie tun. Was Revolutionäre tun, ist, bestehende Rahmen zu durchbrechen, um neue Möglichkeitshorizonte zu schaffen; ein Akt, der anschließend eine radikale Umstrukturierung der gesellschaftlichen Imagination ermöglicht. Vermutlich handelt es sich dabei also um die einzige Handlungsform, die schon laut Definition nicht institutionalisiert werden kann.

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