Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)
Ganzheit erfolgt. 15 Denn so funktioniert die Fantasie eben. Um in der Lage zu sein, Wesenheiten zu erzeugen, die in Wirklichkeit unendlich vielfältig sind, muss man sich selbst und andere als einheitliche Subjekte imaginieren können. Um jenes chaotische und offene Netzwerk sozialer Beziehungen erzeugen zu können, das tatsächlich existiert, muss man in der Lage sein, sich die »Gesellschaft« als etwas Kohärentes, in Grenzen Gefasstes vorzustellen und so weiter. Normalerweise scheinen die Menschen mit dieser Disparität gut leben zu können. Die Frage ist, so scheint mir, warum diese Erkenntnis zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten Zorn und Verzweiflung auslöst und dazu führt, dass die soziale Welt als hohle Farce oder boshafter Scherz empfunden wird. Dies ist, wie ich meine, eine direkte Folge davon, dass die Imagination durch die Einwirkung struktureller Gewalt zwangsläufig verzerrt und zerschmettert wird.
Teil IV: Über Revolution
Wie viele Radikale in den 1960er Jahren wollten auch die Situationisten mittels einer Strategie der direkten Aktion zurückschlagen: Mithilfe von kreativen Akten der Subversion sollten »Situationen« geschaffen werden, die einerseits die Logik des
Spektakels untergraben und es andererseits den Zuschauern ermöglichen, ihre imaginativen Fähigkeiten zumindest vorübergehend wiederzuerlangen. Gleichzeitig hatte man damals den Eindruck, all dies laufe zwangsläufig auf einen großen, aufständischen Moment hinaus – genau genommen auf die Revolution. Wenn die Ereignisse vom Mai 1968 irgendetwas belegen, dann, dass es keinen grundlegenden, einmaligen Bruch geben kann, wenn man es nicht darauf anlegt, die Staatsmacht zu ergreifen. Der Hauptunterschied zwischen den Situationisten und ihren eifrigen Lesern von heute ist, dass das millenaristische Element nahezu völlig weggefallen ist. Niemand glaubt mehr daran, dass die Himmel in absehbarer Zeit aufreißen werden. Trost bietet jedoch folgender Gedanke: Als Konsequenz hieraus kann man, unabhängig davon, wie nahe man der Erfahrung genuin revolutionärer Freiheit auch immer kommen mag, diese zumindest unmittelbar erleben. Betrachten wir einmal folgendes Statement des CrimethInc-Kollektivs, vermutlich die inspirierendste Gruppierung junger anarchistischer Propagandisten, die aktuell aus der situationistischen Tradition heraus operiert:
Wir müssen unsere Freiheit dadurch herstellen, dass wir Löcher in das Gewebe dieser Realität schneiden, indem wir neue Realitäten schmieden, die ihrerseits uns formen werden. Sich ständig selbst in neue Situationen zu versetzen, ist die einzige Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass man Entscheidungen unbelastet von jener Trägheit trifft, die der Gewohnheit, der Gepflogenheit, dem Gesetz oder dem Vorurteil entspringt – und es liegt an einem selbst, solche Situationen herbeizuführen.
Freiheit existiert ausschließlich im Moment der Revolution. Und diese Momente sind nicht so selten, wie man denkt.
Veränderung, revolutionäre Veränderung, geschieht andauernd und überall – und alle, ob bewusst oder unbewusst, wirken daran mit.
Dies ist nichts anderes als eine elegante Umschreibung der Logik der direkten Aktion: das trotzige Beharren darauf, so zu handeln, als wäre man bereits frei. Die augenscheinliche Frage ist, wie dies zu einer übergreifenden Strategie beitragen kann, einer Strategie, die möglichst in eine laufend wachsende Bewegung münden soll, die wiederum eine Welt ohne Staaten und ohne Kapitalismus anstrebt. Dies kann niemand mit Sicherheit sagen. Die meisten nehmen an, dass es sich um einen von endloser Improvisation geprägten Prozess handeln wird. Sicherlich wird es aufständische Momente geben, höchstwahrscheinlich sogar ziemlich viele. Doch diese werden bestimmt nur ein Element innerhalb eines weitaus komplexeren und vielschichtigeren revolutionären Prozesses darstellen, dessen Konturen sich zu diesem Zeitpunkt noch kaum erahnen lassen.
Im Rückblick erscheint es ziemlich naiv zu glauben, ein einzelner Aufstand beziehungsweise ein erfolgreich geführter Bürgerkrieg könne den gesamten Apparat der strukturellen Gewalt, zumindest innerhalb eines bestimmten Staatsgebiets, neutralisieren. Gleiches gilt für die alte Annahme, dass rechtsgerichtete Realitäten innerhalb dieses Herrschaftsraums einfach hinweggefegt werden könnten, um Raum für einen ungehinderten Ausbruch revolutionärer Kreativität zu schaffen. Wenn dem so ist, ist eins jedoch ziemlich verblüffend:
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