Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)
Aus diesem Grund haben etliche revolutionäre Theoretiker, von Raffaele Laudani in Italien bis hin zum Colectivo Situaciones in Argentinien, darauf hingewiesen, dass es womöglich sinnvoller sei, in diesem Zusammenhang nicht von »konstituierender«, sondern von »destituierender Macht« zu sprechen.
IVa: Revolution rückwärts
Marx’ Konzept der Revolution beinhaltet ein merkwürdiges Paradox. Wenn Marx von materieller Kreativität spricht, geht es dabei fast immer um »Produktion«. Dabei besteht er, wie bereits erwähnt, darauf, dass wir Menschen uns charakteristischerweise Dinge zunächst vorstellen und erst dann versuchen, sie hervorzubringen. Wenn er hingegen von sozialer Kreativität spricht, dann fast immer mit Bezug auf die Revolution. Hier jedoch behauptet er beharrlich, dass wir uns auf keinen Fall zunächst etwas vorstellen und dann versuchen sollten,
dies in die Tat umzusetzen. Dies wäre ja Utopismus, und für Utopismus hatte er nur tiefe Verachtung übrig.
Die großzügigste Auslegung wäre wohl, dass Marx zwar bis zu einem gewissen Grad erkannte, dass Produktion, je nachdem, ob es dabei um Menschen oder gesellschaftliche Beziehungen geht, jeweils nach unterschiedlichen Prinzipien funktioniert. Gleichzeitig wusste er jedoch auch, dass er streng genommen über keine Theorie verfügte, um diese Prinzipien näher zu erklären. Wahrscheinlich wurde es erst durch das Aufkommen der feministischen Theorie – derer ich mich in meiner Analyse weiter oben so ausgiebig bedient habe – überhaupt möglich, derartige Fragestellungen systematisch zu durchdenken. (Anzumerken wäre hier noch, dass sich die Auswirkungen der strukturellen Gewalt auf die Vorstellungskraft geradezu beispielhaft darin widerspiegeln, dass die feministische Theorie selbst so schnell in ihre eigene Unterdisziplin abgedrängt wurde, wo sie fast keinen Einfluss auf die Arbeit der meisten männlichen Theoretiker entfalten konnte.)
Daher scheint es mir kein Zufall zu sein, dass die Entwicklung eines neuen revolutionären Paradigmas auf wirklicher, praktischer Ebene in den letzten Jahren größtenteils durch den Feminismus vollbracht wurde beziehungsweise dass feministische Fragestellungen zumindest als wichtigste treibende Kraft hinter dieser Transformation gewirkt haben. Das große Interesse an Konsensfindung und anderen Formen direktdemokratischer Prozesse, das zurzeit in anarchistischen Kreisen in Amerika vorherrscht, lässt sich direkt auf organisatorische Streitfragen innerhalb der feministischen Bewegung zurückführen. So hatten sich Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre kleine, eng verbundene und häufig anarchistisch inspirierte Kollektive gebildet. Als diese rasch größer wurden,
gerieten sie jedoch in eine Krise. Statt das Konsensprinzip für ihre Entscheidungsfindungsprozesse aufzugeben, versuchten viele dieser Gruppen, neue, formalisiertere Versionen zu entwickeln, die auf denselben Prinzipien basieren sollten. Dies wiederum ermutigte etliche radikale Quäker (die ihre eigenen, auf dem Konsensprinzip beruhenden Entscheidungsprozesse zuvor hauptsächlich als religiöse Praxis angesehen hatten), nach und nach mehrere Schulungskollektive zu gründen. Als dann Ende der 1970er Jahre die ersten direkten Aktionskampagnen gegen die Atomindustrie anliefen, hatte sich der gesamte Apparat an Bezugsgruppen, Sprecherräten, Konsensfindung und Facilitation (eine Art der Begleitung beziehungsweise Moderation von Gruppenprozessen zur Erleichterung der Konsensfindung, A.d.Ü.) bereits seiner heutigen Form angenähert. Die dann erfolgende rasante Entwicklung neuer Formen von Konsensfindungsprozessen stellt den wichtigsten Beitrag zur revolutionären Praxis der letzten Jahrzehnte dar. Hauptsächlich wurde diese Arbeit von Feministinnen geleistet, die an konkreten organisatorischen Aufgaben mitgewirkt hatten. Vermutlich fühlte sich ein Großteil dieser Feministinnen wenigstens lose der anarchistischen Tradition verbunden. Oder zumindest nahm ihre Zahl zu, als sich der Mainstream-Feminismus von der direkten Aktion abwandte und der Anarchismus solche Prozesse als eigene Verfahren übernahm. Daher ist es umso paradoxer, dass männliche Theoretiker, die sich zum Anarchismus als Prinzip hingezogen fühlen, selbst jedoch noch nie in praktische Organisationsarbeit involviert waren oder an anarchistischen Entscheidungsfindungsprozessen teilgenommen haben, sich so oft genötigt sehen, trotz ansonsten wohlwollender Äußerungen zu betonen, dass
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