Kanada
denn er ging gleich wieder weg.
Einmal spähte ich durch die dicke Glastür in die geschlossene Bibliothek hinein, in die Korridore zwischen den leeren Regalen, auf die umgestürzten Stühle und den hohen Tisch der Bibliothekarin im Halbdunkel, der quer zur Tür stand. Oder ich las die Ankündigungen auf dem Vordach des Kinos, das nur Wochenendvorstellungen hatte und nur Western zeigte. Ich erkundete die unbefestigten Straßen, die jenseits der Stadt zum Rangierbahnhof führten, und beobachtete die Getreide- und Tankwaggons, die gen Osten und Westen geschoben wurden – das hatte ich auch in Great Falls schon gemacht –, und während die Güterwaggons vorbeiglitten, beäugten mich, in den Türen stehend, die gleichen hageren Landstreicher, als wüssten sie über mich Bescheid. Ich entdeckte das Schlachthaus, DIENSTAG SCHLACHTTAG stand auf einem handgeschriebenen Schild, und im hinteren Pferch wartete eine todgeweihte Kuh. Und ich kam an der Massey-Harris-Reparaturwerkstatt vorbei, wo im dunklen Hintergrund Männer mit Masken und Lötlampen an landwirtschaftlichen Geräten arbeiteten. Der Friedhof lag jenseits der Stadtgrenze, aber bis dorthin ging ich nicht. Ich war noch nie auf einem Friedhof gewesen, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie hier in Kanada nicht genauso waren wie unsere.
Es ist natürlich etwas ganz anderes, durch eine Stadt zu gehen, wenn man zu einer Familie gehört, die einen zu Hause, nicht weit entfernt, empfangen wird, anders als jemand, den niemand erwartet, an den niemand denkt und sich fragt, was er wohl gerade tut und ob es ihm gutgeht. Ich machte meine Rundgänge viele, viele Male, nicht nur einmal Anfang September, als das Wetter umschlug, was es dort sehr plötzlich tun kann, als der Sommer verschwand und vor mir und allen anderen der herannahende Winter aufragte. Nur wenige Menschen sprachen mit mir, allerdings schien auch niemand bewusst nicht mit mir sprechen zu wollen. Fast jeder, dem ich auf der Straße begegnete, sah mir in die Augen und registrierte mich als gesehen , ich empfand das wie eine Art Bescheinigung, dass ich ins Privatgedächtnis aufgenommen worden war und das auch wissen sollte. Zwar wirkte nichts an Fort Royal unverwechselbar für mich, ich aber war jemand Unverwechselbares für Menschen, die sich alle untereinander kannten und sich auf dieses Wissen verließen. (Diese fundamentale Tatsache hatte mein Vater nicht begriffen, deshalb war er auch nach seinem Bankraub erwischt worden.) Man könnte sagen, dass ich meine Rundgänge genauso machte, wie man es als Fremder eben tut. Doch dieser Ort war schon deshalb merkwürdig, weil er sich in einem anderen Land befand und trotzdem nicht sehr von der mir bekannten Welt unterschied, weder in meinem Lebensgefühl noch im äußeren Anschein. Wenn überhaupt bekam seine Fremdheit für mich erst durch die Ähnlichkeit mit Amerika etwas Tiefes und auch Faszinierendes. Unterm Strich gefiel es mir also dort.
Während ich vor dem Schaufenster des Drugstores stand und mir versonnen die ausgestellten farbigen Gefäße und Becher und Pulver und Mörser und Stößel und Messingwaagen anschaute – all diese Gegenstände fehlten im Rexall in Great Falls, und sie ließen den Laden hier viel ernsthafter wirken –, kam eine Frau mit ihrer Tochter an mir vorbei. Ein Stück weiter drehte sie sich um und kam zurück. »Kann ich dir irgendwie behilflich sein?« Sie trug ein rot-weiß geblümtes Kleid mit einem weißen Lackledergürtel und passenden weißen Lackschuhen. Sie hatte keinen Akzent – das fiel mir besonders auf, Mildred hatte das Thema erwähnt. Sie wollte nur freundlich sein, hatte mich vielleicht schon gesehen und wusste, ich stammte nicht von hier. So hatte mich noch nie jemand angesprochen – als völlig Fremden. Die Erwachsenen in meinem Leben hatten immer alles über mich gewusst.
»Nein«, sagte ich, »vielen Dank.« Mir war bewusst, dass sie zwar in meinen Ohren nicht ungewohnt klang, ich für sie aber vermutlich anders, als sie gewohnt war. Vielleicht sah ich auch anders aus – obwohl, das glaubte ich nicht.
»Bist du zu Besuch hier?« Sie lächelte, wirkte aber unschlüssig über mich. Ihre Tochter – in meinem Alter, blonde Ringellöckchen und kleine, hübsche blaue Augen, die ein bisschen vorstanden – stand neben mir und sah mich unverwandt an.
»Ich besuche meinen Onkel hier«, sagte ich.
»Wer wäre das gleich?« Ihre blauen Augen, passend zu denen ihrer Tochter, leuchteten erwartungsvoll.
»Mr
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