Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
Vom Netzwerk:
zum Arzt bringen würde. Ich war zurückgelassen worden, während alles andere, an mir vorbei, vorankam. Niemand hatte erwähnt, dass ich je zu irgendetwas Bekanntem zurückkehren oder meine Eltern wiedersehen würde oder dass sie mich gar holen kämen – außer Charley, den ich nicht mochte und der mich nie richtig beachtete, sprach niemand mit mir, und ich sollte auch mit niemandem sprechen, hatte also keine Ahnung, was für mich vorgesehen war. Entsorgt ins Dunkel von Partreau, war ich ein anderer geworden: nicht mehr der ausgeglichene Junge, der womöglich unterwegs aufs College war und hinter dem eine Familie stand, eine Schwester. In den Augen der Welt war ich jetzt kleiner geworden, unbedeutend, vielleicht unsichtbar. Was mir das Gefühl gab, näher am Tod als am Leben zu stehen. So sollte sich kein fünfzehnjähriger Junge fühlen. An diesem Ort hatte mich das Glück verlassen, das empfand ich, und das würde sich so bald nicht ändern, obwohl ich immer darauf vertraut hatte. Mein Schuppen in Partreau war das leibhaftige Pech. Wenn ich in jenen Nächten hätte weinen können, ich hätte es getan. Aber es gab keinen, um sich auszuweinen, und außerdem hasste ich Weinen sowieso und wollte kein Feigling sein.
    Und doch, wenn ich es schaffte, mich nicht jeden Tag in dieser Weise selbst runterzuziehen – bis ich mich verbittert und verlassen fühlte und mir auch den ganzen nächsten Tag verdarb –, wenn ich einfach die 6 Kilometer nach Partreau zurückradelte und mein kaltes Abendessen eher um fünf als nach dem Dunkelwerden aß, mich in Ruhe mit den Dingen beschäftigte, die da waren, sie wahrnahm (nach Mildreds Rat nichts ausschließend), dann konnte ich versuchen, meine Situation besser in den Blick zu bekommen, mich aufraffen und durchhalten.
    Schließlich lag es ja nicht in meinem Interesse, entsorgt zu werden. Auch wenn mich jede Nacht eine Leere überkam – nicht zu wissen, was oder wo ich auf der Welt war oder wie die Dinge standen beziehungsweise sich für mich entwickeln würden –, es war ja alles schon viel schlimmer gewesen! Diese Wahrheit hatte Berner begriffen, deshalb war sie fortgegangen und würde vermutlich nie wiederkommen. Weil sie erkannt hatte, dass nichts so schlimm sein konnte wie ein Leben als die verlassenen Kinder von Bankräubern. Charley Quarters hatte gesagt, man überquere Grenzen, um vor etwas zu fliehen oder sich zu verstecken, und seiner Meinung nach war Kanada ein guter Ort dafür (auch wenn ich die Grenze kaum bemerkt hatte). Mit der Grenzüberquerung wurde man aber auch zu einem anderen Menschen – das geschah jetzt mit mir, und ich musste es annehmen.
    Und so machte ich an jenen langen, kühler werdenden Nachmittagen mit dem hohen Himmel, wo man schon am Tage den Mond sehen konnte, vor oder nachdem ich gegessen hatte (ein kaputter Servierwagen war in die Disteln geworfen worden, dazu brachte ich einen kaputten Stuhl aus dem Schuppen mit und stellte alles vors Fenster, an den violetten Busch, wo ich Richtung Norden schauen konnte) – an jenen Tagen machte ich eine zweite Tour, aber durch Partreau. Diese Erforschung war von anderer Art. Wenn ich in Fort Royal den Unterschieden zu meinem alten Leben auf der Spur war und mich mit dem Neuen versöhnen wollte, so stellten meine Erkundungen rings um Partreau eine Art Besuch im Freilichtmuseum dar, das den Niedergang der Zivilisation ausstellte – einer Zivilisation, hinweggefegt und woanders wieder aufgeblüht oder auch nirgendwo.
    Es gab nur acht bröckelnde Straßen von Norden nach Süden und sechs von Westen nach Osten. In ihnen standen achtzehn verlassene, verfallene Häuser ohne Fenster und Türen, die Vorhänge flatterten im Wind, jedes Haus war nummeriert, jede Straße beschildert – wobei nur wenige der Namen noch lesbar waren. South Ontario Street. South Alberta Street (da lag mein Schuppen). South Manitoba Street, wo ein kleines Postamt (leer) und Mrs Gedins’ Haus standen. Und South Labrador Street, die die Grenze zwischen der Stadt und den kahlen Weizenfeldern bildete, entlang der einen Seite eines Hufeisens aus toten Ölweiden sowie Pyramidenpappeln und Erbsensträuchern und Traubenkirschen, wo Prärie-Raufußhühner im Geäst saßen und den Highway beobachteten und Elstern sich im Unterholz um Insekten kabbelten.
    Früher hatte es mehr als fünfzig Häuser gegeben, rechnete ich aus, indem ich jeden Block abschritt und Grundstücke und Fundamentflächen zählte. Die unkrautüberwucherten Vorgärten waren zu

Weitere Kostenlose Bücher