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Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
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für vermeintliche Unterschiede, an denen beharrlich festgehalten werde, um korrupten Interessen zu dienen. Er sei ein wachsamer Verfechter des Ansatzes, dass alles im Leben möglichst natürlich und wesensgemäß sein solle. Er zitierte Rousseau – dass Gott alles zum Guten erschaffen habe, der Mensch aber daran herumgefuhrwerkt und es böse gemacht habe. Er verabscheute die »tyrannische Regierung«, das waren seine Worte, die Kirchen und alle politischen Parteien – vor allem die Demokraten, die mein Vater gut gefunden hatte (und ich auch), wegen seiner Sympathie für Präsident Roosevelt, den Remlinger den »Mann im Rollstuhl« oder den »Krüppel« nannte und der seiner Meinung nach das Land verführt und es an die Juden und die Gewerkschaften verraten hatte. Wenn er von diesen Themen sprach, funkelten seine Augen, er schien dabei immer wütender zu werden. Vor allem hasste er die Gewerkschaften, die er »falsche Weltenretter« nannte. Davon handelten auch seine Texte auf den Flugblättern und in den Zeitschriften, die in meinem Schuppen lagerten: Der entscheidende Faktor, Die Freidenker . Wenn ich mit ihm zusammen war, sagte ich meistens nichts und hörte lieber zu, denn er fragte wenig bis gar nicht nach mir – einmal nach dem Namen meiner Schwester, nach meinem Geburtsort, erneut, ob ich studieren wolle und wie ich mich an meine neue Bleibe gewöhnt hätte. Ich sprach weder von meinen Eltern noch verriet ich, dass meine Mutter Jüdin war. Heute würde man ihn in den Staaten wohl als radikal oder libertär betrachten, und er wäre dort weniger fremd als damals in der Prärie von Saskatchewan.
    All sein Reden schien ihn aber niemals glücklich zu machen, als wäre das ständige Sprechen eine weitere Last, die er zu tragen hatte. Seine nasale Stimme war die ganze Zeit zu hören, sein Mund bewegte sich lebhaft, seine Augen blinzelten, meist abgewandt, als wäre ich gar nicht da. Manchmal war er enthusiastisch, dann wieder zornig – und ich hatte das Gefühl, so gewöhne er sich an seine innere Leerstelle. Womit ich nur sagen will, er war mir sympathisch (obwohl er Juden nicht mochte), und ich verbrachte gern Zeit mit ihm, auch wenn ich selten etwas beitrug und nie viel verstand. Er war exotisch, so exotisch wie der ganze Ort hier. Jemandem wie ihm war ich noch nie begegnet, so wie mir auch der Gedanke, jemanden interessant zu finden, nie nahegelegt worden war.
    In meinem Bett schlief ich gut, und in Fort Royal zu sein erfüllte mich mit Optimismus. Zugehörig fühlte ich mich kaum, und abgesehen von meinen Pflichten gab es auch kaum etwas, woran ich teilzunehmen hatte. Ich sorgte selbst dafür, mich als zugehörig und meine Lage als normal zu empfinden – weil das meinem Wesen entsprach (und bis heute entspricht). Ich ließ mir die Haare schneiden und bezahlte mit den kanadischen Dollars, die ich als Trinkgeld bekommen hatte. Ich badete in der Gemeinschaftsbadewanne und konnte mich, wenn ich wollte, im Spiegel anschauen. Ich stellte meine Schachfiguren auf der Kommode auf und dachte mir neue Strategien aus, falls Remlinger und ich je spielen sollten. Ich fühlte mich im Leonard zu Hause und war gesellig mit den Sportsfreunden und den Handelsreisenden und den Ölbohrarbeitern, die noch dablieben, wenn die Erntehelfer schon weitergezogen waren. Gelegentlich saß ich bei einem der philippinischen Mädchen namens Betty Arcenault. Betty neckte mich und lachte und sagte, ich erinnere sie an ihren jüngeren Bruder, der auch so klein sei wie ich. Ich sagte, ich hätte eine Schwester in Kalifornien, die auch größer sei als ich (meine Eltern erwähnte ich wieder nicht). Sie meinte, sie wolle später gern nach Kalifornien gehen, deshalb fahre sie jeden Abend von Swift Current ins Leonard, um als »Hostess« zu arbeiten. Sie war bleich und dünn und hatte gefärbte blonde Haare und rauchte und lächelte selten, wegen ihrer Zähne. Sie war diejenige, die ich einmal beim Öffnen einer Zimmertür überrascht hatte, wie sie im Halbdunkel auf der Bettkante gesessen hatten, daneben ein schlafender Junge. Ich dachte nicht daran, selber irgendetwas mit ihr anzustellen, mir fehlte jegliche klare Vorstellung. Die einzige Erfahrung dieser Art hatte ich mit Berner gemacht, und viel wusste ich nicht mehr davon.
    Ich stellte fest, dass ich nicht mehr an Partreau dachte. Zwar fuhr ich jeden Morgen mit Charley Quarters hin und weidete in der klirrenden Kälte vor der Nissenhütte Gänse aus, gegenüber von meinem Schuppen. Aber es

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