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Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
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war, als wäre ich nie dort drinnen gewesen, nie durch die Straßen gegangen, hätte nie vor den Erbsensträuchern gestanden und in die Richtung gestarrt, wo ich den Süden vermutete, und mich nie gefragt, ob ich meine Eltern wiedersehen würde. Wenn die Zeit für einen keine große Rolle spielt, schließt sie sich wieder über den Ereignissen. Und dort war die Zeit für mich praktisch ohne Bedeutung.
    In diesen Tagen erzählte mir Florence La Blanc, sie habe sich einen Plan für meine Zukunft überlegt. Das sagte sie mir am Esstisch, auf dem eine weiße Leinentischdecke lag, gefaltete Servietten und Silberbesteck; sie hatte es aus Medicine Hat mitgebracht und zusammen mit den Blumen gedeckt, um, wie sie sagte, eine Illusion von Zivilisation auf der Prärie zu schaffen, und außerdem wegen Thanksgiving. Wenn ich auf die Schule ginge, so wie es sich gehörte, dann hätte ich den Tag freigehabt, sagte sie. Natürlich fühlte es sich für mich nicht nach Thanksgiving an, denn es war ein Montag. Aber Florence hatte einen Truthahn zubereitet, dazu Kartoffelbrei und Kürbis-Pie, und alles in ihrem Auto hergebracht. Dann verkündete sie, wir müssten unseren gemeinsamen Feiertag auch gemeinsam feiern.
    Inzwischen gab es nur noch wenige Essensgäste – einen Vertreter und ein Paar auf der Durchreise Richtung Osten. Die Ölbohrarbeiter und die Eisenbahner und die Sportsfreunde aßen alle in der Bar. Remlinger starrte das große Gemälde an der Wand des Speisesaals an, das von einem kleinen Deckenscheinwerfer angestrahlt wurde. Es zeigte einen Braunbären mit rotem Fez auf dem Kopf, der, umringt von schreienden Männern, tanzte. Die Männer schauten wild und erregt drein, mit offenstehenden roten Mündern, und sie reckten ihre kurzen Arme johlend in die Luft.
    Florence sagte mir mit geröteten Wangen, sie habe über mich und meine »Notlage« nachgedacht. Sie war der Meinung, den Herbst über solle ich in Fort Royal in Arthurs Obhut verbleiben. Ich solle insgesamt gepflegter herumlaufen und kräftiger werden und mir öfter die Haare schneiden lassen. Dann solle ich, noch vor Weihnachten, den Bus nach Winnipeg nehmen und bei ihrem Sohn Roland einziehen, der eine junge Frau hatte und deren Kind an Polio gestorben war. Sie habe ihm schon von mir erzählt, und er sei bereit, mich aufzunehmen. Er würde mich auf der katholischen Highschool von St. Paul’s anmelden, wo keiner groß nachfragen würde, weil seine Frau dort unterrichtete. Und falls es doch dazu käme, meinte sie – und grinste mich mit leuchtenden, zwinkernden Augen an –, würden sie sagen, ich sei ein Flüchtling, den seine amerikanischen Eltern verlassen hätten, weil sie im Gefängnis säßen, ich sei so mutig gewesen, ganz allein nach Kanada zu kommen, wo sich jetzt verantwortungsbewusste Kanadier um mich kümmerten, da ich keine anderen Verwandten hätte. Die kanadische Obrigkeit, sagte sie, würde mich nie nach Montana zurückschicken; und in Montana würde nie jemand davon erfahren, es sei denen dort ohnehin egal. Im Übrigen sei ich schon in drei Jahren achtzehn, diese Jahre würden schnell vergehen, und dann könne ich mein Leben selbst in die Hand nehmen wie jeder andere auch. Dafür sollten wir dankbar sein. Sie schien keinen Augenblick lang in Erwägung zu ziehen, dass ich je wieder bei meinen Eltern (oder einem von ihnen beiden) wohnen würde. Mir ging allerdings schon durch den Kopf, dass ich nach drei Jahren, falls einer von ihnen vielleicht freigekommen war, nach ihnen suchen könnte, sie würden mich bestimmt gern zurückhaben. Ich lasse all das jetzt ziemlich normal klingen, aber es war mir sehr merkwürdig, dass so über meine Zukunft geredet wurde und ich mich in einer so hilflosen Lebenslage befand.
    Remlinger richtete seine blauen Augen auf mich, während Florence ihren Plan weiter ausführte. Er hatte eine schöne schwarze Jacke an, dazu ein violettes Halstuch, und fiel wie immer unter den Hotelgästen auf. Er zwinkerte mir zu und lächelte. Seine dünnen Lippen strafften sich, das Grübchen erschien auf seinem Kinn, und er schaute wieder zu dem Bild mit dem Bären und den johlenden Männern, als hätte er etwas in mir bemessen und identifiziert und wäre dann wieder zu seinen Gedanken über die natürliche Ordnung des Universums zurückgekehrt, die Gott so vollkommen erschaffen und der Mensch dann ruiniert hatte. Es war mir unangenehm, so angeschaut zu werden. Ich wusste nicht, was da bemessen wurde oder wie zutreffend die Messung

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