Kanada
Hause und ging jeden Tag zur Schule oder nahm den Zug nach Seattle. Es wäre sicher besser, dachte ich, ihr von Winnipeg aus zu schreiben, sobald sich alles gefunden hatte, sobald ich auf der St.-Paul’s-Schule war und mehr zu erzählen hatte, Dinge, die sie verstehen konnte.
Ich steckte den Brief in meinen alten Kopfkissenbezug, den ich noch von dem Morgen hatte, als wir wegfahren sollten – Berner, unsere Mutter und ich. Ich dachte, ich würde ihn irgendwann vielleicht noch einmal lesen, so wie die Kommentare und Beobachtungen, die ich auf Anweisung Remlingers in mein kleines blauliniertes Notizbuch schreiben sollte, damit ich später erfuhr, wie das Leben gewesen war, während ich es gelebt hatte. Ich habe nie etwas in dieses Notizbuch geschrieben, und als ich aus Fort Royal wegging, ließ ich es liegen.
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Charley Quarters meinte, so was Seltsames wie die vollständige Geschichte von Arthur Remlinger hätte ich wahrscheinlich noch nie gehört, aber ich solle sie hören, denn ein Junge in meinem Alter müsse unbedingt die ganze Wahrheit erfahren (anders, als viele Leute es gern hätten), das würde mir helfen, mir selbst strenge Grenzen zu setzen. Und gute Grenzen würden mich da halten, wo ich auf der Welt hingehörte. Er selbst hätte zwar die ganze Wahrheit erfahren, sagte er, aber beim richtigen Setzen der Grenzen dann versagt. Und deshalb säße er jetzt allein in einem ramponierten Trailer in Partreau. Charley sprach immer so – er bezog sich auf dunkle Erlebnisse, die er nicht im Detail erzählte, die aber einem Menschen wie mir, wenn er vernünftig und gesund leben wollte, schändlich und elend erscheinen mussten. Charley war gefährlich und gewalttätig und möglicherweise pervers, und ich mochte ihn immer noch nicht. Aber eine gewisse Intelligenz hatte er schon. Er hatte mir gegenüber geprahlt, dass er sich früher mal an einem College beworben hätte, aber als Métis abgelehnt worden wäre – und weil er zu klug war. Ich fragte mich, ob tief in ihm nicht ein Junge wie ich steckte und ob nicht ein bisschen von diesem guten Jungen irgendwo überlebt hatte – zum Beispiel in seiner Bereitschaft, mir Grenzen zu erklären und die ganze Wahrheit zu offenbaren.
Wir nahmen Gänse aus, die am Morgen geschossen worden waren – ein großer gefiederter Haufen davon lag neben der Bahnschwelle auf dem Boden, die wir als Arbeitsplatte benutzten, gleich hinter der weit offenstehenden, oben abgerundeten Tür der Nissenhütte. Einige der Gänse paddelten noch mit ihren Füßen, einige sperrten die blutigen Schnäbel auf und zu, und wir schwangen die Beile und hackten die Köpfe und andere Teile ab, bevor wir sie mit Messern aufschlitzten und ausweideten und sie schließlich durch Charleys Rupfmaschine schoben, um ihre Federn zu entfernen. An diesem Tag betrat ich auch seinen Trailer, zum ersten und letzten Mal.
So etwas wie da drinnen, muss ich sagen, hatte ich noch nie gesehen. In gewisser Weise war es wie mein Schuppen, was die Enge, das Ungelüftete und Übelriechende anging. Aber der Trailer war auch die komplette Ansammlung von Charleys Leben – soweit ich das einschätzen konnte. Es handelte sich um einen überheizten rechteckigen Raum, dessen Fenster mit Pappe ausgeschlagen und mit Malerkrepp abgedichtet waren. Ein Delmar-Herd aus schwarzem Eisen stand pechverklebt in der Ecke, das Abzugsrohr verlief durch ein eigens in die niedrige Decke geschnittenes Loch. Ein schmuddliges blaues Sofa mit einem Berg Decken war sein Bett. Ein fürchterliches Chaos aus Stühlen und kaputten Pappkoffern füllte den Raum, dazu gestapelte getrocknete Tierhäute, die Charley noch verkaufen wollte, seine Golfschläger, eine Gitarre, ein kleiner Fernseher, der nicht angeschlossen war, mehrere halbleere Dosen Vogelfutter, in denen die Ratten gehaust hatten, und ein Haufen Lebensmittel in der Ecke – Mais und Fisch und Tee aus dem Genossenschaftsladen und Würstchen und Salzcracker, alles in Dosen – und schmutzige Teller und Gerätschaften und Charleys Kosmetikbox und ein kleiner gerahmter Spiegel und einige Silberkreisel mit kaputten Propellern, eine Kiste Anmachholz und ein Tischventilator, ein Einmachglas mit einer gelben Flüssigkeit drin und ein Paar Boxhandschuhe, die an der Wand hingen. Ein alter Kühlschrank stand da und eine Kommode mit herausgezogenen Schubladen und abblätterndem Furnier. Obenauf lagen die Bücher, die Charley gerade las. Rebellion am Roten Fluss hieß eins, Die CCF und die Métis und Das Leben
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