Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
Vom Netzwerk:
ausgefallen war. Dies gehörte zu den Gefühlen, die ich nicht ausdrücken konnte – dass irgendetwas Ungutes auf mich zukam. Ich war davon überzeugt, dass Arthur etwas von mir wollte – sonst wäre ich nicht dort gewesen –, und zwar mehr als nur Publikum oder Zeuge zu sein. Möglicherweise wollte er auch einfach ein schlechtes Gefühl auf mich übertragen oder durch meine Anwesenheit beweisen, dass sein schlechtes Gefühl vom Anfang ein Irrtum gewesen war.
    Florence erörterte meine Zukunft nur zu gern weiter, und ich wollte nur zu gern glauben, ich hätte eine. Sie sagte, ich solle mir überlegen, Kanadier zu werden, sie würde mir ein Buch darüber geben. Dann käme alles in Ordnung. Kanada sei besser als Amerika, was ohnehin jeder wisse – bis auf die Amerikaner. Kanada habe dasselbe wie Amerika, aber keiner rege sich deshalb auf. In Kanada könne man ganz normal sein, und Kanada würde mich bestimmt liebend gern aufnehmen. Sie sagte, vor einigen Jahren sei Arthur Kanadier geworden. (Er schüttelte den Kopf, fuhr sich mit den Fingern durchs blonde Haar und sah weiterhin weg.) Das hatte ich nicht gewusst, Charley hatte gesagt, er sei Amerikaner, aus Michigan wie ich. Das änderte schlagartig meine Sicht auf ihn. Nicht zum Schlechteren, sie wurde nur anders, als sei seine Eigentümlichkeit teilweise von ihm abgefallen; zuvor, als ich ihn noch für einen Amerikaner hielt, war er mir interessanter vorgekommen. Jetzt wirkte er weniger bedeutsam. Was am Ende vielleicht der einzige Unterschied zwischen diesem Ort auf der Erde und jenem ist: wie wir über die Leute denken, die von dort stammen, und welchen Unterschied das für uns macht.

57
    In diesen Tagen schrieb ich einen Brief an meine Schwester Berner, in meiner kleinen Kammer auf dem Bett sitzend, vor dem quadratischen Fenster, das zur Stadt hinausging. Ich benutzte dünnes blaues Papier, das ich im Drugstore gekauft hatte, und schrieb mit einem Drehbleistift aus einer der Pappkisten in Partreau. Ich wollte es ganz normal finden, dass Berner und ich uns Briefe über eine große Entfernung hinweg schrieben, auch den Ort, an dem ich mich zu diesem Zeitpunkt aufhielt, wollte ich für normal halten, zumindest im großen Zusammenhang gesehen.
    In meinem Brief erzählte ich ihr, ich befände mich in Kanada, was gar nicht so weit weg sei, auch wenn man das meinen könnte. Ich sei nach einer Tagesreise aus Great Falls hier angekommen. Ich erzählte ihr, ich würde vielleicht Kanadier, was keine große Veränderung darstelle. Und ich würde bald in Winnipeg zur Schule gehen und ein gutes neues Leben führen. Ich sagte, ich hätte interessante Leute kennengelernt (in meiner Handschrift sah das Wort »interessant« komisch aus), die mir Arbeit gegeben hätten, echte Aufgaben und besondere Herausforderungen – das gefalle mir, und ich hätte mich gut daran gewöhnt. Ich würde etwas lernen, das gefalle mir auch. Unsere Eltern erwähnte ich nicht, als wüsste ich nichts von ihnen und als könnten wir sie einfach aussparen, wenn wir uns schrieben. Arthur Remlinger oder Florence La Blanc erwähnte ich auch nicht, denn ich wusste nicht, wie ich sie oder ihren Platz in meinem Leben hätte beschreiben sollen. Ich verriet auch nicht, dass ich nicht wusste, wo Winnipeg lag. Ich verriet nicht, dass Florence mein derzeitiges Leben als »Notlage« bezeichnet hatte. Und ich erwähnte meine seltsamen Befürchtungen nicht. Sie waren mir ja nur teilweise bewusst, und ich wollte nicht, dass Berner sich deshalb Sorgen machte. Ich schrieb, ich liebte sie und sei froh, dass sie glücklich war, und falls sie Rudy im Park träfe, solle sie hallo sagen. Ich würde sie, sobald ich einen Bus von Winnipeg aus nehmen könne, in San Francisco besuchen und wieder ihr Bruder sein. Ich unterzeichnete den Brief, steckte ihn zusammengefaltet in den blauen Umschlag und nahm mir vor, auf die Post zu gehen und ihn an die Adresse in San Francisco zu schicken. Dann legte ich den Brief auf die Holzkommode und stellte mich ans Fenster, blickte über die Dächer der Stadt und die Welt dahinter, die sich wie ein Meer bis zum Horizont erstreckte. Ich dachte darüber nach, wie weit, weit weg Berner doch war, dass ich nichts Wichtiges oder Persönliches geschrieben hatte und nichts, was sie betraf. Sie erfuhr aus dem, was in dem Brief stand, kaum etwas über mich, was daran lag, dass meine Lage nicht leicht zu beschreiben war und jeden anderen vermutlich erst einmal in Sorge stürzte. Ich war ja hier nicht zu

Weitere Kostenlose Bücher