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Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
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des Louis Riel zwei andere. Stapel loser Blätter waren mit Handgeschriebenem bedeckt, Charleys Gedichten vermutlich, aber ich sah sie mir nicht genauer an. An der Wand hingen gerahmte Fotos. Hitler. Stalin. Rocky Marciano. Ein Mann, der mit einem Stab in der Hand über ein Hochseil balancierte, über einem Fluss. Eleanor Roosevelt. Benito Mussolini mit vorgerecktem Kinn, und daneben Mussolini, kopfüber an einem Laternenmast aufgehängt, das Hemd über den Bauch gerutscht, neben ihm baumelnd seine Freundin. Ein Foto zeigte Charley als Jungen, mit nacktem Oberkörper, o-beinig, im Begriff, einen Speer zu werfen, dann das Bild einer älteren Frau, die streng in die Kamera schaute, und wieder Charley, in Armeeuniform mit Hitlerbärtchen, den Arm zum Nazigruß erhoben. Damals erkannte ich nicht alle sofort. Wobei mir Mussolini etwas sagte, denn ich hatte mal alte Zeitungsfotos von ihm gesehen, lebendig und tot – die hatte mein Vater aus dem Krieg aufgehoben.
    Offizieller Grund für mein Betreten des Trailers war, dass ich ihm einen runden Wetzstein für die Axt holen sollte, damit er die Hälse, Füße und Flügel der Gänse leichter abschlagen konnte. Ich dachte aber, er wollte mir auch mal zeigen, wie ein Leben ohne gesetzte Grenzen aussah. Drinnen herrschte ein Gestank nach faulen Eiern, vermischt mit etwas Süßem und Chemischem und Essensbezogenem, das waren seine Gerbflüssigkeiten und auch Charley selbst – und da es heiß und ungelüftet war, stank es noch schlimmer. Man konnte den Geruch fast sehen und fühlen – wie eine Wand –, obwohl die Metalltür des Trailers offen stand und in den zwei Minuten, die ich drinnen war, kalter Wind hereinwehte. Ich wollte nur wieder raus. Manchmal witterte ich Charley, wenn ich ihm zu nahe kam oder der Wind in meine Richtung blies. Der Gestank schien seinen fettigen Kleidern und seinen gefärbten Haaren zu entströmen. Das war eine Eigenschaft, an die sich wohl keiner je gewöhnt hätte und gegen die ich mich stählen musste. Aber ich gewöhnte mich irgendwann doch daran, wenn mir auch jedes Mal in seiner Nähe wieder bewusst wurde, dass ich ihn roch, und das blieb so, unwillkürlich roch ich ihn immer weiter, als läge auch etwas Anziehendes in seinen Ausdünstungen. Er entfachte in mir, selbst später noch, ein Bedürfnis danach, etwas Verbotenes zu riechen, etwas zu schmecken, von dem ich wusste, es würde mich anwidern, mir mit offenen Augen Dinge anzuschauen, bei denen andere den Blick abwenden würden – mit anderen Worten, ein Bedürfnis danach, Grenzen zu überschreiten. Natürlich lässt die Anziehungskraft nach, wenn man älter wird und genug Grenzen hinter sich gelassen hat. Aber sie gehört zum Erwachsenwerden, so wie man lernt, dass man sich an einer Flamme verbrennen oder dass Wasser zu tief sein kann oder dass man aus der Höhe abstürzen und nachher nicht mehr davon berichten kann.
    Charley hielt an seiner schlechten Meinung von Arthur Remlinger fest – auch wenn er sie meist für sich behielt. Aber er hatte mich gewarnt, Remlinger wäre ein gefährlicher, täuscherischer, rücksichtsloser, chaotischer, schamloser Mensch, vor dem jemand wie ich sich hüten, den er sogar fürchten sollte, da er einen anderen durch Intelligenz und Schmeichelei in gefährliche Situationen bringen könnte, was Charley, wie er andeutete, selbst erlebt hatte, auch wenn er es wie üblich nicht genauer ausführte. Wir waren mit der Arbeit an den Gänsekadavern beschäftigt. Er hob den Blick von dem Stück Bahnschwelle und ließ ihn über die leere Stadt Partreau schweifen, als wäre ihm gerade etwas dazu eingefallen. Er sog Zigarettenrauch in seine Lungen, hielt ihn dort fest und ließ ihn dann durch die Nasenlöcher hinauswirbeln. »Da sind jetzt ›Leute‹ unterwegs nach hier oben«, sagte er. »Er weiß davon. Er bastelt an einem Plan, um seine Haut zu retten.« Er war Remlinger. Bestimmt wäre mir aufgefallen, meinte Charley, dass er sich noch seltsamer als gewöhnlich benahm. In dieser Hinsicht müsste ich aufpassen und mich von ihm fernhalten, denn sein seltsames Benehmen könnte finstere Folgen haben, damit wollte ich nichts zu tun bekommen, und davon müsste ich mich abgrenzen. Lächerlich, das alles, sagte er. Aber so käme es auf der Welt oft zu dem Schlimmsten. (Ich wusste natürlich längst aus meinem eigenen Leben – auch wenn ich es vielleicht nicht hätte ausdrücken können –, dass oftmals das Unwahrscheinliche so wahrscheinlich wurde wie das Aufgehen der

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