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Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
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noch Sorgen über die Schule, den Schachclub und all die Dinge, an denen mir etwas lag. Er lächelte und sagte, nein, wir würden nicht umziehen. Es sei Zeit für unsere Familie, sich fest niederzulassen, Berner und ich sollten uns Freunde suchen und wie anständige Bürger leben. Er freue sich schon auf seine Erfolge als Verkäufer von Ranchland. Und sobald er gelernt habe, wie der Hase lief, würde er es mir beibringen. Ich verstand nicht, wie das zu einer neuen Geschäftschance passen sollte; fast hätte ich ihn gefragt, warum er seine Pistole auf eine Geschäftsreise mitgenommen habe. Aber ich ließ es bleiben, weil ich nicht erwartete, dass er mir die wahren Gründe nennen würde. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, glaubte ich ihm nicht das Geringste von all dem, was er uns erzählte. Ich wusste nur, dass ich es glauben sollte. Kinder können genauso gut im Heucheln werden wie Erwachsene.
    Als wir zu Abend aßen, war es nach halb elf. Ich war schläfrig und hatte keinen Hunger mehr. Das Telefon schellte noch zweimal, während wir bei Tisch saßen. Mein Vater ging dran und lachte beim ersten Mal herzhaft und sagte, er würde den Anrufer, wer immer es war, später zurückrufen. Beim zweiten Mal stand er da und hörte zu, so als redete jemand ernsthaft auf ihn ein. Als er zurückkam, meinte er nur: »Nichts, das war nichts. Bloß noch mal nachgehakt.«
    Bei Tisch fragte ihn unsere Mutter, ob ihm etwas an Berner aufgefallen sei. Aber ja, sagte er. Ihre Haare sähen besser aus, das gefalle ihm gut. Unsere Mutter wies ihn darauf hin, dass Berner Lippenstift trug – das tat sie nämlich wieder –, und wenn wir nicht aufpassten, würde sie nach Frankreich oder Hollywood durchbrennen. Mein Vater sagte, Berner könne doch mit unserer Mutter zu den Schwestern der göttlichen Vorsehung fahren und Nonne werden, mit einem Keuschheitsgelübde – was meine Mutter zum Lachen brachte, aber nicht Berner. Heute ist mir dieser Abend als schönster, natürlichster in Erinnerung, den wir als Familie in jenem letzten Sommer verbrachten – oder eigentlich überhaupt. Einen Augenblick lang stellte ich mir vor, das Leben könnte einen stetigeren, verlässlicheren Kurs einschlagen. Die beiden waren glücklich und fühlten sich wohl miteinander. Mein Vater freute sich darüber, wie meine Mutter mit ihm umging. Er machte ihr Komplimente wegen ihrer Kleider und ihrer Erscheinung und ihrer Stimmung. Es war, als hätten sie etwas entdeckt, das es früher einmal gegeben hatte, das aber versteckt oder missverstanden oder mit der Zeit vergessen worden war, und nun bezauberte es sie wieder, bezauberten sie sich gegenseitig. Was für ein Ehepaar ja nur richtig und wünschenswert erscheint. Der Mensch, in den sie sich einst verliebt hatten und der ihr Leben zusammenhielt, schien noch einmal kurz auf. Für manche Menschen verblasst diese Vision nie – auf mich trifft das zu. Aber es ist seltsam, dass sich dieses Wiederaufscheinen für unsere Eltern ereignete, dass Enttäuschung, Kummer und Sorge für sie verflogen wie Wolken nach einem Gewitter, dass sie ihre besten Seiten neu aneinander entdeckten – ausgerechnet kurz bevor sie unsere Familie in den Untergang führten.
    Eines muss ich unserem Vater aber bescheinigen. Über den ganzen Abend, als wir eine Familie waren, die lachte, scherzte und gemeinsam aß – in Verleugnung dessen, was sich zusammenbraute –, hatten sich seine Gesichtszüge allmählich verändert. Als er zwei Tage zuvor aufgebrochen war, hatte er aufgedunsen und erschöpft ausgesehen, aufgelöst, verschwommen und verwaschen – jeder seiner Schritte wirkte schwerfällig und ungeübt. Doch als er an jenem Abend zurückkehrte, durchs Haus stromerte und verkündete, was ihn alles interessierte – Satelliten, Politik in Südamerika, Organtransplantationen, ein besseres Leben für uns alle –, da erschien sein Gesicht schärfer, wie gemeißelt. In dem körnigen Licht der Lampe über unserem Esstisch wurde er zupackend und präzise. Unser Vater hatte kleine haselnussbraune Augen – hellbraune Scheiben, auf die man nicht achten würde, die einem leicht wie schwache Augen vorkommen konnten, weil er sie beim Lächeln zusammenkniff. Und wegen seiner großknochigen Züge verloren sich die Augen oft in der Gesamtwirkung. Doch nun, an unserem Abendbrottisch, schien sich sein ganzes Gesicht nur um die Augen zu drehen, als ob sie mit einem Mal eine bislang ungesehene Welt erblickten. Sie funkelten. Als er mich mit diesen Augen

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