Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
Vom Netzwerk:
betrachtete, gab mir das zunächst ein gutes, positives Gefühl. Aber irgendwann wurde mir unbehaglich dabei. Er schien alles neu zu bewerten, ähnlich wie er zwei Stunden zuvor durch alle Zimmer unseres Hauses gestreift war und sie wie zum ersten Mal angeschaut hatte, mit frischem Interesse. Dadurch war mir das Haus fremd vorgekommen, als plante er, es ganz anders zu nutzen als bisher.
    All die Jahre habe ich immer an seine Augen gedacht: wie anders sie an jenem Abend wurden. Ich überlegte, ob sich da nicht vielleicht – schließlich sollte sich seinetwegen schon bald sehr vieles verändern – ein lange unterdrücktes Potential auf seinem Gesicht an die Oberfläche emporgearbeitet hatte. Er wurde zu dem, was und wer er immer hätte sein sollen. Dazu mussten einfach nur all die Schichten abgetragen werden, die sein wahres Ich verdeckt hatten. Dieses Phänomen kenne ich auch von den Gesichtern anderer Männer – Obdachloser, die vor Bars oder in Grünanlagen oder Busbahnhöfen auf dem Boden lagen oder vor den Türen der Mission Schlange standen, um aus einem langen Winter ins Warme zu kommen. Auf ihren Gesichtern – oft gutaussehend, aber verwüstet – habe ich die Überreste der Menschen erkannt, die sie, knapp gescheitert, beinahe geworden wären, bevor sie zu sich selbst wurden. Dahinter steht eine Theorie von Schicksal und Charakter, die ich nicht mag, nicht glauben mag. Aber ich trage sie in mir wie eine solide Untermauerung. Und ich kann einen solchen verwüsteten Mann nicht sehen, ohne mir im Stillen zu sagen: Das ist mein Vater. Mein Vater ist dieser Mann. Den habe ich früher mal gekannt.

12
    Das Getane; das Nie-Getane; das Geträumte. Irgendwann nach langer Zeit fließen sie ineinander.
    Als Berner und ich im Bett lagen, waren meine Eltern in der Küche zu hören, sprechend, lachend, beim Abwasch. Ein Wandschrank wurde geöffnet und mit einem Klicken wieder geschlossen. Ihre gedämpften Stimmen.
    »Keiner käme darauf …«, sagte mein Vater, den Rest konnte ich nicht verstehen.
    »Willst du einen Familienausflug daraus machen?«, fragte meine Mutter, eher spöttisch. Kurz lief Wasser.
    »Keiner käme darauf«, sagte er wieder. Dann mein Name. »Dell.«
    »Du wirst doch nicht. Nein«, sagte sie.
    »Okay.« Abgetrocknete Teller wurden leise klirrend aufeinandergestellt.
    »Bist du jetzt glücklich?« Zu laut, um es nicht zu hören.
    »Wie kommst du denn auf glücklich?«
    »Es ist das Entscheidende. Absolut.«
    Der Traum: im Schlafanzug ins Licht der Küche rennen, wo sie mich anstarren. Mein großer Vater, immer noch funkelnde Äuglein. Meine kleine Mutter, weiße Caprihosen, hübsche grüne Bluse, grüne Knöpfe. Sorgenvolle Miene. »Ich komme mit«, sage ich. Verschwitztes Gesicht. Geballte Fäuste. Hämmerndes Herz. In meiner Vision weichen die Eltern zurück, wie wenn man krank ist und das Fieber die Welt schrumpfen lässt, aber die Abstände größer werden. Meine Eltern werden immer kleiner, lassen mich im grellen Licht der Küche allein, sie am Fluchtpunkt, kurz vorm Verschwinden.

13
    Am Donnerstag schlief ich lange, weil ich so lange auf gewesen war und sie in der Nacht hatte herumrumoren hören. Um acht kam unsere Mutter in mein Zimmer – ihre Brille, ihr weiches, lugendes Gesicht nah an dem meinen, ihre kühle kleine Hand, die meine bloße Schulter berührte. Ihr Atem roch süß nach Colgate und sauer nach Tee. Meine Zimmertür stand offen. Die Gestalt unseres Vaters kam vorbei. Er trug Bluejeans und ein schlichtes weißes Hemd und seine Cowboystiefel.
    »Deine Schwester hat schon gefrühstückt. Es gibt Grießbrei für dich.« Sie konzentrierte ihren Blick auf mein Gesicht, als sähe sie dort etwas Unerwartetes. »Wir müssen für einen Tag weg. Morgen sind wir wieder da. Es wird euch beiden guttun, wenn ihr euch mal um alles kümmert.« Ihr Gesicht war ruhig. Sie hatte eine Entscheidung getroffen.
    Unser Vater erschien in der Tür, mit gekämmten, glänzenden Haaren. Er hatte sich rasiert. Mein Zimmer roch nach seinem Talkum. Er wirkte sehr groß in dem leeren Türrahmen.
    »Du und deine Schwester, ihr geht nicht ans Telefon«, sagte er. »Ihr geht nirgendwohin. Wir sind morgen Abend zurück. Das wird euch guttun.«
    »Wo fahrt ihr hin?« Hinter ihm schien die Sonne ins Wohnzimmer, ich blinzelte, und meine Augen brannten, weil ich zu wenig geschlafen hatte.
    »Geschäftlich. Hatte ich ja bereits erwähnt«, sagte er. »Ich möchte wissen, was deine Mutter davon hält.« Er sprach leise,

Weitere Kostenlose Bücher