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Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
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tiefes Misstrauen gegenüber dem normalen Leben und sehne mich zugleich danach. Ich kann mir ein normales Leben und das Wissen vom Ende meiner Eltern eigentlich gar nicht gleichzeitig vorstellen. Aber der Versuch lohnt sich, denn wie gesagt: Sonst wäre nur sehr wenig von dieser Geschichte zu verstehen.
    Der letzte Blick auf sie – bevor sie zu etwas anderem wurden – lässt mich erahnen, dass sie, in dem Chevrolet auf dem Weg gen Osten nebeneinandersitzend, ohne ihre Kinder und allein zu zweit, vielleicht einen Hauch ihrer alten Nähe spürten. Wie es bei allen Eltern gewesen wäre. Vielleicht erlebten sie diese Gefühle erst zum zweiten Mal: dass sie sich zu etwas Einzigartigem und Liebenswertem ergänzten, so grundlegend, dass es noch nie angesprochen oder in aller Fülle erfahren worden war – nur ein einziges Mal vielleicht, zu Anfang.

16
    Für die Fahrt nach Glendive brauchten sie sechseinhalb Stunden. Sie übernachteten im Yellowstone Motel. Mein Vater bemühte sich, bei dem Mann an der Rezeption besonders fröhlich aufzutreten, ohne irgendetwas Einprägsames zu sagen. Er ließ meine Mutter im Auto, während er eincheckte, damit sie nicht auffiel und man sich später an sie erinnern konnte. Dann machten sie in der heißen, muffigen Hartfaserplatten-Bude ein Nickerchen, hinter heruntergelassenen Jalousien. Um sieben, als es noch hell war – die Stadt hatte sich allerdings schon geleert, und Rauflügelschwalben schwärmten und tauchten in ihr Spiegelbild im Yellowstone River –, fuhr er ins Zentrum, aß allein im Hotel Jordan zu Abend und bestellte Rindfleisch mit Makkaroni zum Mitnehmen für seine Frau, die krank auf dem Zimmer liege.
    Wie sie diese Nacht miteinander verbrachten – die letzte, bevor sie zu Verbrechern wurden –, kann keiner wissen, denn meine Mutter lässt sich darüber nicht genauer aus. Für so eine Nacht gibt es keine Vorlage. Sie waren allein in ihrer brütenden Hütte. Sie hatten alle Themen ausdiskutiert, die zu diskutieren waren oder ihnen in den Sinn kamen. Normale Menschen wären um zwei Uhr früh panisch und schweißverklebt aufgewacht, hätten die neben ihnen liegende Person wachgerüttelt, die Nachttischlampe eingeschaltet und gerufen: »Halt, warte! Warte! Was machen wir hier eigentlich? Alles gut und schön, dieser Plan, bei dem wir uns genauestens ausgemalt haben, wie es funktionieren soll. Aber das Ganze ist irrsinnig! Wir müssen zu unseren Kindern heimfahren und das irgendwie anders lösen.« So würden vernünftige Leute denken und sprechen und handeln, wenn sie einen Augenblick lang überlegten. Doch meine Eltern taten das keineswegs. »In der heißen Nacht in Glendive habe ich nicht gut geschlafen«, das schrieb meine Mutter. »Hatte einen Albtraum – ich war auf einem Boot, einem Schiff, das durch den Panamakanal fuhr (der muss es gewesen sein) oder vielleicht durch den Suezkanal, und wir blieben stecken, konnten weder vor noch zurück. B. hat die Nacht tief und fest geschlafen, wie immer. War schon früh auf und saß angezogen auf dem Stuhl und hantierte mit seiner Pistole, als ich aufwachte und ihn sah.«
    Als Nächstes machten sie sich fertig, um halb acht, ließen im Zimmer ihre Kleider herumliegen, hängten BITTE NICHT STÖREN an die Tür und fuhren, ohne zu frühstücken, los. Es sollte so aussehen, als wollten sie noch bleiben, erst ausschlafen und dann irgendwo hinfahren, wo sie etwas Geschäftliches zu erledigen hatten, mit der Absicht, danach zurückzukehren.
    Sie fuhren ostwärts durch die kleine Stadt Wibaux, nicht weit von dort, wo mein Vater seinen ursprünglichen Plan ausgeheckt hatte – mit der verlassenen Ranch und dem ausgeliehenen Truck. Hinter Wibaux überquerten sie die Grenze nach North Dakota – lediglich ein kleines Blechschild verkündete, dass man hier in einen anderen Bundesstaat kam. Nicht weit hinter der Grenze bogen sie auf einen unbefestigten Farmweg ein, fuhren anderthalb Kilometer in die Gerstenfelder hinein bis zu einem Bach, der sich hinter einer Pappelgruppe voller Elstern durch die Landschaft wand. Mein Vater stieg in dem dunstigen Morgenlicht aus und wechselte die Nummernschilder aus – die grün-weißen »Peace Garden State North Dakota«-Schilder, die er vor drei Tagen gestohlen hatte, ersetzten die »Treasure State«-Exemplare mit den schwarzen Buchstaben, die er nachher wieder dranschrauben wollte. Er zog sich um, im Glauben, sein blauer Overall und die Tennisschuhe würden ihn unsichtbar machen, und legte seine guten

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