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Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
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zornigen Blick auf Berner ab, dann blitzten die Augen wieder zum Rückspiegel. Der schwarze Ford war da. Die beiden Männer im Anzug. Sie kamen mir wie Schuldirektoren oder Vertreter vor.
    Wir fuhren auf die Brücke an der Central Avenue zu, quer durch das Geschäftsviertel der Stadt. Bars. Das Rexall. Woolworth. Ein hohes Bürogebäude, an dessen Fuß sich der Hobbyladen befand, wo ich meine Schachfiguren gekauft hatte. Die Stadthalle. Es herrschte nicht viel Verkehr. Alle Leute waren zum halben Preis auf dem Jahrmarkt. Unser Haus lag in seiner schäbigen Umgebung direkt gegenüber, am anderen Flussufer.
    »Ich bin nicht deiner Meinung«, erklärte Berner. Sie drehte sich zu mir um und blies ihre Wangen auf. Sie sah alt aus, wie eine Lehrerin. Sie forderte ihn gern heraus und wollte sich noch eine weitere Entschuldigung zum Ausreißen verschaffen.
    »Tja, du irrst dich aber«, sagte unser Vater. »Du irrst dich schlicht und einfach.«
    »Ich verstehe viele Dinge nicht«, sagte Berner, »aber ich akzeptiere sie. Und andere Dinge akzeptiere ich nicht, auch wenn ich sie verstehe.« Sie verschränkte schroff die Arme vor der Brust und starrte auf den Fluss, der unter unserer Brücke hindurchströmte. » Du verhältst dich nicht sinnvoll und vernünftig. Und das weißt du auch.«
    Unser Vater lächelte eigenartig und schüttelte den Kopf. »Findet ihr beiden Kinder, ich bin gemein zu euch? Ist das euer Problem?« Er schaute wieder in den Spiegel, um herauszufinden, ob das schwarze Auto immer noch hinter uns war – ob es auch auf die Brücke abgebogen war. War es.
    Keiner von uns sagte ein Wort. Ich begriff gar nicht, warum er das überhaupt gefragt hatte. Sie waren nie gemein zu uns. »Ich bin nämlich nicht gemein«, sagte er. »Ich möchte nur, dass ihr Kinder eine wichtige Lektion fürs Leben lernt. Manche Dinge muss man akzeptieren und verstehen – auch wenn sie anfangs weder sinnvoll noch vernünftig erscheinen. Ihr müsst ihnen einen Sinn geben. So machen es die Erwachsenen.«
    »Dann entscheide ich mich lieber gegen das Erwachsenwerden«, sagte Berner verächtlich. Unser Vater redete, das wurde mir plötzlich klar, von dem Geld, das ich in meine Hose gestopft hatte. Er sagte das eine und meinte etwas anderes. Er hatte im Spiegel gesehen, wie ich es entdeckte oder wie ich es in meine Hose stopfte, als er sich zu mir umdrehte. Und jetzt wollte er mir sagen, dass ich es, bevor wir nach Hause kamen, wieder zurücklegen sollte und akzeptieren, dass ich nicht verstand, wo es herkam. Am schlimmsten für mich wäre, es immer noch in der Hose zu haben, wenn wir unser Haus erreichten, und es dann erklären zu müssen. Es zurückzulegen war sinnvoll und vernünftig. Und sobald ich das getan hätte, würde alles wieder gut werden.
    »Ich sehe keinen Grund, warum du jetzt weinen musst«, sagte unser Vater. Berner hatte die Arme eng vor dem Bauch verschränkt und starrte grimmig aus dem Fenster. »Keiner hat dir was Schlimmes angetan, Schwester.«
    »Ich bin nicht deine Schwester«, sagte sie wütend, »und ich weine nicht.«
    »O doch, das tust du. Brauchst du aber nicht.« Er sah sie an, dann wieder auf die Straße. Die Central Avenue brachte uns heimwärts.
    Zu einem bestimmten Zeitpunkt in unserem Leben hatte Berner aufgehört zu weinen, als könnte sie weder das Weinen ertragen noch die Reaktionen anderer darauf – vor allem meine. Stattdessen wurde sie wütend. Aber ich merkte, dass sie wirklich weinte, weil sie ihre kleinen Finger in die Augenwinkel legte und tief Luft holte. Es gab kein Buhuu, kein Schluchzen oder Heulen wie früher, als wir Kinder gewesen waren. Wie lange ich nicht mehr geweint hatte, wusste ich schon gar nicht mehr – länger noch als sie. Unsere Mutter weinte niemals. Und unser Vater hatte nur einmal geweint, bei einem Kriegsfilm im Fernsehen.
    Dass er sich gerade auf Berner konzentrierte, war meine einzige Chance, das Geldpäckchen wieder hinter den Sitz zu schaffen. Ich bückte mich, als wollte ich mir den Schuh zubinden, wurschtelte das Päckchen aus meiner Hose und stopfte es wieder zwischen die Polster, und von einer Sekunde auf die nächste fühlte ich mich leichter. Als ich die Augen zum Rückspiegel hob, starrte mein Vater wieder Löcher in mich hinein.
    »Was machst du denn da?« Berner warf mir einen kummervollen Blick zu, als hätte ich sie verraten. Ihr Gesicht war tief betrübt. Sie wandte sich wieder ab und schaute auf die Straße.
    »Meinen Schuh zubinden«, sagte ich. Unsere

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