Kanada
Straße war nicht mehr weit. Die Kronen der Ulmen und Pappeln im Park wiegten sich im Wind, der niedrige Kirchturm der Lutheraner war dazwischen kaum zu erkennen.
»Frag mal deine Schwester, was ihr über die Leber gelaufen ist.« Unser Vater streckte unbeholfen eine Hand aus und klopfte Berner auf die Schulter. Sie sah ihn nicht an. »Ich habe keine Ahnung. Ich schwör’s. Vielleicht wird sie es dir ja enthüllen. Erzählst du Dell, warum du weinst, meine Süße? Ich bin kein gemeiner Mensch. Und ich will auch nicht, dass du das denkst.«
»Wenn jemand weint, dann deshalb, weil es ihm elend geht.« Berner spuckte die Worte aus.
Wir bogen am Park ab. »Elend?« Es schockierte ihn immer, wenn es anderen Leuten anders ging als ihm.
Ich hatte noch einmal zum Rückfenster hinausgeschaut. Der Ford mit den beiden Männern war hinter uns eingebogen und folgte uns, vorbei an der Lutheranerkirche. Unser Vater riss plötzlich das Steuer herum und fuhr das Auto an den Bordstein, als wollte er dem schwarzen Auto aus dem Weg gehen. Der Ford schlich an uns vorüber. Die beiden Männer spähten in unser Auto hinein. Der eine redete, der andere nickte. Sie fuhren bis zur Ecke, wendeten auf der Westseite des Parks ab und kehrten langsam zur Central zurück. Ich wusste, das war die Polizei, aber ich hatte keine Ahnung, warum sie uns folgten. Das Geld hinter dem Sitz kam mir gar nicht in den Sinn.
»Was meint ihr, wer diese beiden Deppen waren?«, sagte mein Vater und beobachtete, wie der Ford auf die Central fuhr. Er umklammerte das Steuerrad. Seine Kiefermuskeln mahlten, als wollte er gleich noch etwas sagen. Wir standen stumm vor unserem Haus. Weißes Konfetti von der Lutheranerhochzeit wehte über den Asphalt auf unseren Rasen.
»Vielleicht«, sagte mein Vater. Er hielt inne und schnalzte und lächelte Berner an, die immer noch kläglich in die Ferne starrte. Er wandte sich mir zu, aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte. »Ich wollte gerade sagen, diese Burschen könnten Mormonen sein, Missionare vielleicht. Sie tragen Anzüge und Krawatten. Vielleicht haben sie ein Buch, das wir lesen sollen. Ich hätte anhalten und mit ihnen reden sollen. Das wäre vielleicht interessant gewesen. Meint ihr nicht?« Das hieß, er wollte, dass wir die Männer für einen Witz hielten und uns keine Gedanken ihretwegen machten. »Was meinst du, Schwester?« Das war sein Dixie-Gerede. Er dachte, das gefiele allen. Seine Augenbrauen tanzten hoch, und er warf mir einen Blick zu, der besagen sollte, wir zwei wären mal wieder übermütig, aber Berner nicht. Den Blick hatte ich immer gemocht.
»Ich wünschte, ich wäre weit, weit weg von hier«, sagte Berner trübselig. »Ich wünschte, ich wäre in Kalifornien oder Russland.«
»Das wünschen wir uns alle manchmal, Süße«, sagte unser Vater. »Du und deine Mutter scheint es euch noch mehr zu wünschen als die meisten anderen. Das müsst ihr mal miteinander besprechen.« Er drehte sich zu mir um. Ich rechnete damit, dass er etwas sagte, aber er lächelte nur sein breites Zahnpastalächeln, als wäre eine Schlacht verlorengegangen. Er stieß seine Wagentür auf und sprach beim Aussteigen weiter. »Die Dinge sind gerade im Aufschwung, ihr zwei, und wir hängen uns dran. Wir haben uns lang genug einen Haufen Mumpitz bieten lassen.«
Berner runzelte die Stirn, dann lachte sie höhnisch, als fände sie ihn verachtenswert und lächerlich, womit ich nicht einverstanden war, obwohl wir den Jahrmarkt verpasst hatten.
»Na bitte«, sagte mein Vater, als er ausgestiegen war, als hätte ich ihm geantwortet. »Mehr brauche ich gar nicht zu wissen.« Er beugte sich vor, ins Auto hinein, wo Berner und ich saßen. Eine Windbö fegte durch die Straße, wirbelte Konfetti auf und schüttelte die Bäume noch heftiger. Ein intensiver Geruch nach Regen strömte heran. Es würde ein Gewitter geben. »Kinder, steigt jetzt aus«, sagte mein Vater. »Hier sind wir daheim. Daran lässt sich nichts ändern. Unser kleines Zuhause. Zumindest im Moment.«
25
Als wir ins Haus kamen, verkündete mein Vater, er sei todmüde, ging ins Schlafzimmer und legte sich in Kleidern und Stiefeln quer aufs Bett, wo er unter dem Ventilatorlicht auf der Stelle einschlief, einen Arm über den Augen.
Langsam ging der Tag zu Ende, in den Fenstern der Nachbarn ging das Licht an, und es fing an zu regnen – erst weich, dann härter –, der Wind frischte auf und fegte Tropfenkaskaden gegen die Scheiben. Es zog eisig durchs ganze Haus,
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