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Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
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oder hätte sich geprügelt. Er trug eine schmutzige schwarze Latzhose, dazu einen breiten Gürtel mit Messingschnalle, an der Seite ein kleines Jagdmesser im Futteral, und grobe schwarze Stiefeletten – wie sie die Männer auf dem Stützpunkt trugen oder in der Raffinerie, wo sein Vater arbeitete. Er hatte kaum Ähnlichkeit mit dem Jungen, mit dem sich meine Schwester im Sommer angefreundet hatte und den ich gemocht hatte, weil er nett zu mir gewesen war. Etwas Ungewöhnliches war mit ihm passiert, und ich hatte keine Ahnung, was.
    Aber ich mochte ihn immer noch und begriff auch, wie meine Schwester sich dafür entscheiden konnte, mit ihm durchzubrennen. Er wirkte geheimnisvoll und gefährlich. Kurz überlegte ich, ob ich mich ihnen anschließen und dem Morgen und allem, was es vermutlich mit sich bringen würde, entziehen sollte.
    Während er durch das Zimmer spazierte, redete Rudy die ganze Zeit weiter. Er war noch nie in unserem Haus gewesen. Vielleicht machte es ihn nervös, und er verhielt sich deshalb so überdreht. Außerdem war er angetrunken. In seiner Papiertüte befanden sich drei Flaschen Pabst-Bier, dazu eine Zellophantüte mit ungeschälten Erdnüssen, die er unentwegt aß, wobei er die Schalen auf das Niagarafälle-Puzzle meines Vaters fallen ließ. In seiner hinteren Tasche steckte noch eine Viertelliterflasche Evan-Williams-Whiskey, den er »The Pete« nannte. Rudy nahm bemerkenswert viel Raum in unserem Haus ein, das sowieso schon in einem merkwürdigen Zustand war.
    Er wusste bereits Bescheid darüber, dass unsere Eltern im Gefängnis saßen und wir allein waren. Mit ihm hatte Berner wohl telefoniert, als ich aufwachte. Er sagte, sein Vater und seine Stiefmutter verstünden sich überhaupt nicht mehr und Mormonen seien sowieso verrückt. Er teile ihren Glauben nicht. Mormonen, sagte er, hätten eine Geheimsprache entwickelt, die sie nur untereinander sprächen. Sie hätten vor, Katholiken und Juden zu versklaven, die Neger sollten entweder wieder nach Afrika zurückgeschickt oder exekutiert werden. Washington D.C. solle niedergebrannt werden. Und wer die Mormonenkirche verlassen wolle, werde gejagt und in Ketten zurückgebracht. Er holte seinen »Pete« hervor, nahm einen Schluck, schnalzte mit den Lippen, dann reichte er die Flasche schockierenderweise an Berner weiter, die ebenfalls einen Schluck nahm und dann mir die Flasche gab. Auch ich trank davon. Ich schluckte alles auf einmal herunter und musste die Zähne zusammenbeißen, um keinen Hustenanfall zu bekommen. Meine Kehle zog sich zusammen und brannte, bis hinunter in meinen Magen, und dort tat es dann auch weh. Berner nahm noch einen Schluck. Es war nicht das erste Mal. Sie verzog nicht einmal das Gesicht und klopfte sich nachher mit den Fingern auf die Lippen, als habe es ihr geschmeckt. Rudy gab ihr eine Zigarette, die er für sie anzündete, und sie nahm sie zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt sie beim Rauchen von sich weg. Und all das im Wohnzimmer unseres Hauses! Vor zwölf Stunden waren unsere Eltern noch hier gewesen. Ihre Regeln hatten unser Verhalten bestimmt, alles, was wir taten. Jetzt waren sie fort, und mit ihnen ihre Regeln. Mir wurde schwindlig davon. In dem Augenblick hatte ich eine vage Ahnung, wie der Rest meines Lebens sein würde.
    Berner setzte sich in einen der Wohnzimmersessel und beobachtete Rudy, sonst nichts. Er zog eine Art Show ab, lief hin und her und sagte, seine Eltern hätten damit gedroht, ihn zu einem Staatsmündel zu machen, etwas Schlimmeres könne gar nicht passieren. Da werde man in ein riesiges Waisenhaus in Miles City verfrachtet, Fremde könnten einen adoptieren und zu ihrem Privatbesitz machen. In seinem Alter würde ihn allerdings keiner mehr adoptieren, deshalb bliebe ihm dort nur ein Dasein als Gefangener, in der widerwärtigen Gesellschaft fieser Farmerjungs, deren Eltern gestorben seien oder sie verstoßen hätten, oder dreckiger Indianerkids mit abartigen Eltern. Da wäre das Leben ruiniert, selbst wenn man es überstand. Diese Gefahr, dachte ich, hatte meine Mutter vorausgesehen, und deshalb hatte sie so darauf beharrt, dass Berner und ich mit keinem außer Miss Remlinger mitgehen dürften.
    Bald roch das ganze Wohnzimmer nach Rudys Zigaretten und Whiskey und Bier. Vor nicht langer Zeit war es sauber gewesen. Wir würden es morgen wieder putzen müssen. Ich schaltete den Dachventilator ein, der mit seinem lauten Gerassel anfing und den Rauch zum Teil wegblies. Alle Türen und Fenster

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