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Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
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Wesen der Schachfiguren entsprach stets ihrem ursprünglichen Zweck, und eine höhere Macht steuerte alles. Diesen kurzen Moment lang fragte ich mich, ob Berner und ich genau das waren: festgelegte Figürchen, die von größeren Kräften als uns herumkommandiert wurden. Ich beschloss, dass wir es nicht waren. Ob wir es gut fanden oder überhaupt wussten, jetzt waren wir nur noch uns selbst gegenüber verantwortlich, keinem höheren Plan. Falls unser Wesen wirklich festgelegt war, musste es sich später offenbaren.
    Über die Jahre habe ich mir angewöhnt anzuerkennen, dass jede Situation, die mit Menschen zu tun hat, auf den Kopf gestellt werden kann. Alles, was mir irgendjemand als wahr versichert, könnte es nicht sein. Jede Glaubenssäule, auf der die Welt ruht, kann jeden Moment explodieren oder auch nicht. Die meisten Dinge bleiben nicht sehr lange, wie sie waren. Dieses Wissen hat mich allerdings nicht zynisch gemacht. Zynismus hieße, das Gute ist nicht mehr möglich; und ich weiß mit Sicherheit, dass es das ist. Ich versuche einfach, nichts als gegeben zu nehmen und für die nächste Veränderung bereit zu sein, die garantiert bald kommt.
    Und damals konnte ich auch beinahe schon Prioritäten setzen – diese Lektion lernt man beim Schachspielen, und zwar praktisch sofort. Alles, was das Leben meiner Eltern entscheidend bestimmte, war weniger wichtig als die Ereignisse, die mich von jenem Augusttag in die Zukunft trugen. In der ganzen bisherigen Geschichte ging es im Grunde nur darum, diese keineswegs einfache Tatsache zu lernen – und um einen klareren Blick auf unsere Eltern. Deshalb fühlte ich mich wohl auch befreit, als Berner und ich an jenem Tag auf der Brücke standen, mein Herz schlug laut vor Aufregung. Das könnte die schwer fassbare Wahrheit gewesen sein und der Grund dafür, dass ich den Ring meines Vaters ins Wasser fallen ließ und danach keinen Gedanken mehr an ihn verschwendete.
    Am besten lassen wir uns beide an jenem Morgen auf der Brücke zurück, das ist besser, als sich vorzustellen, wie ich kurze Zeit später von der Veranda aus Berner nachschaute: Sie ging unsere baumbeschattete Straße entlang, hinaus aus meinem Leben, dorthin, wo immer ihres sie nun hinführen würde. Wenn ich mich auf Berners Weggehen konzentrieren würde, sähe es so aus, als drehte sich alles nur um Verlust – und so sehe ich es gar nicht, bis zum heutigen Tag nicht. Vielmehr geht es um Fortschritt und um die Zukunft, auch wenn es nicht immer leichtfällt, diese Dinge zu erkennen, wenn man so nahe an ihnen dran ist.

TEIL ZWEI

39
    Folgendes passierte: Mildred Remlinger fuhr mit ihrem verbeulten, alten braunen Ford vor unserem Haus vor, kam schnurstracks den Pfad entlang und die Eingangsstufen hoch und klopfte an die Haustür, hinter der ich allein wartete. Sie trat gleich ein und wies mich an, meinen Koffer zu packen – ich hatte natürlich gar keinen. Ich hatte nur den Kissenbezug, in dem immer noch meine Siebensachen lagen. Sie fragte nach Berner. Ich erzählte ihr, sie sei gestern fortgegangen. Mildred ließ ihren Blick durchs Wohnzimmer schweifen und meinte, das sei nun Berners Problem, wo immer sie gerade sei, denn wir hätten keine Zeit, nach ihr zu suchen. Bald würde das Jugendamt des Staates Montana auftauchen, um Berner und mich in Gewahrsam zu nehmen. Schier ein Wunder, sagte sie, dass bislang noch niemand hiergewesen sei.
    An jenem Spätvormittag des 30. August 1960 fuhr Mildred mit mir auf dem Beifahrersitz über den Highway 87 Richtung Norden, genau wie mein Vater, als er Berner und mich vor gar nicht langer Zeit mitnahm zu den Indianerhäusern und dem Sattelschlepper, wo die Rinder geschlachtet wurden und wo er möglicherweise eine erste Ahnung davon bekam, dass er und unsere Mutter einem Fiasko entgegensteuerten.
    Zuerst sagte Mildred nicht viel. Hinter uns versank Great Falls in der Landschaft. Sie begriff wohl sehr genau, was gerade mit mir passierte, dass sich das alles nicht erklären ließ und dass es besser war, wenn wir schwiegen und ich keinen Ärger machte.
    Auf der Hochebene nördlich und westlich der Highwoods bestand die Welt nur noch aus heißem gelben Weizen und Grashüpfern und über den Highway kriechenden Schlangen und dem hohen blauen Himmel, vor uns im blauen Dunst lagen die Bear’s Paw Mountains mit ihren glitzernden Schneegipfeln. Havre, Montana, war die nächste Stadt weiter nördlich. Dorthin hatte unser Vater im Frühsommer einen neuen Dodge geliefert und war über

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