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Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
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hatte mich geweigert, sie zu hassen, und war der treue Sohn geblieben, der nicht weglief, sondern tat, was unsere Mutter wollte. Deshalb passierte jetzt mir alles Schlimme. Ich hätte nicht sagen können, was ich erwartete oder was sich meine Mutter wohl für mich überlegt hatte. Sie hatte alles Mildred erklärt, nicht mir. Ich fühlte mich hereingelegt und sitzengelassen, meine Treue war nicht respektiert worden, und nun saß ich mit dieser komischen Frau hier, wo mich nur die Bussarde finden würden, wenn ich mein Leben selbst in die Hand nehmen wollte. Jung zu sein, das war das Schlimmste. Ich verstand, warum Berner unbedingt älter sein wollte und weggelaufen war. Um sich zu retten.
    Der Luftmangel in meiner Brust tat weh, so als ob man zu kaltes Wasser trinkt und sich wie gelähmt fühlt. Aber Tränen wären jetzt das Zeichen einer noch größeren Niederlage gewesen. Mildred hätte mich für jämmerlich gehalten. Ich presste meine Augen zu, umklammerte den warmen Türgriff, dann lockerte ich die Finger und ließ die heiße Luft von draußen meine Tränen überwältigen. Heute glaube ich nicht, dass mich Mildreds Eröffnung so traf – also dass ich nach Kanada gebracht wurde und dort in die Obhut von Fremden kommen sollte –, sondern vielmehr die Häufung der Ereignisse im Lauf der letzten Woche und mein gescheiterter Versuch, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Mildred wollte mir nur helfen, mir und meiner Mutter. Meine Reaktion auf das Gehörte war am ehesten eine Art Trauer.
    »Ich kann dich verstehen«, sagte Mildred schließlich. Sie wusste bestimmt, dass ich weinte. »Es tröstet kein bisschen zu erfahren, dass man an gar nichts schuld ist. Vielleicht würde dir das alles besser gefallen, wenn du an irgendetwas schuld wärst.« Sie rutschte mit ihren dicken Beinen in eine bessere Sitzposition, hob das Kinn und blickte nach vorn, als sähe sie irgendetwas auf der Straße. Ich hatte aufgehört zu weinen. »Gleich überqueren wir die Staatsgrenze nach Kanada«, sagte sie und lehnte sich an den Sitz. »Ich werde ihnen erzählen, du wärst mein Neffe. Ich bringe dich nach Medicine Hat, um dir neue Schulkleider zu kaufen. Falls du ihnen mitteilen willst, dass ich dich gerade kidnappe, wäre das der richtige Moment.« Sie schürzte die Lippen. »Aber wir wollen doch möglichst nicht ins Gefängnis.«
    Vor uns, wo der Highway wie eine Bleistiftlinie in der Ferne verschwand, wurden zwei dunkle flache Höcker am Horizont sichtbar, dahinter der blaue Himmel, an dem nicht eine Wolke schwebte. Die Höcker hätte ich nicht bemerkt, wenn ich nicht Mildreds Blick gefolgt wäre. Das da war Kanada. Nicht zu unterscheiden. Derselbe Himmel. Dasselbe Tageslicht. Dieselbe Luft. Nur anders. Wie konnte es sein, dass ich dort hinfuhr?
    Mildred wühlte beim Fahren in ihrer großen roten Lackledertasche am Wagenboden. Die dunklen Höcker verwandelten sich schnell in zwei niedrige, eckige Formen: zwei Gebäude nebeneinander auf einer kleinen Erhebung mitten in der Prärie. Bei jedem stand ein Auto. Das musste die Stelle sein, wo die Grenze verlief. Ich wusste nicht, was da passierte. Vielleicht würde mich jemand in Gewahrsam nehmen, mir Handschellen anlegen und mich ins Waisenhaus schicken oder wieder zurück, wo nichts als ein leeres Haus war.
    »Woran denkst du gerade?«, fragte Mildred.
    Ich spähte nach vorn, zum Himmel über Kanada. Mich hatte noch nie jemand direkt gefragt, woran ich gerade dachte. In unserer Familie war belanglos gewesen, was Berner und ich dachten – obwohl wir immer etwas dachten. Was habe ich zu verlieren?, lauteten die Worte, die ich stumm vor mich hin sagte, daran dachte ich gerade, aber auch nur, weil ich sie schon von anderen gehört hatte, im Schachclub. Zu Mildred hätte ich sie nicht gesagt. Aber ich war selbst erschrocken, dass der Gedanke absolut zutraf. Stattdessen sagte ich: »Woher weiß man, was wirklich mit einem geschieht?« Das hatte ich mir einfach so ausgedacht.
    »Oh, das weiß man nie.« Mildred hielt ihren Führerschein in der Hand, die auch das Steuer hielt. Wir näherten uns bereits den, wie sich zeigte, zwei Holzhütten. Auf ihrer Höhe teilte sich der Highway. »Es gibt zwei Arten von Menschen auf der Welt«, verkündete Mildred. »Na ja, eigentlich gibt es ganz viele Arten. Aber mindestens zwei. Erst mal diejenigen, die begreifen, dass man es nie weiß; und dann diejenigen, die meinen, man wüsste es immer. Ich gehöre zur ersten Gruppe. Ist sicherer.«
    Ein massiger Mann

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