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Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
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einen anderen Highway durchs Gebirge zurückgefahren. »Ein trostloser Ort, ganz unten in einem Riesenloch. Hinter den sieben Bergen«, so hatte seine Beschreibung gelautet, aber dort sei er auf das Flaggschiff der polnischen Marine gestoßen – das war noch so einer von seinen ranzigen Witzen. Ich verstand nicht, warum Mildred mich dorthin fuhr. Auf der Landkarte war Havre der nördlichste Punkt von Montana, weiter ging’s nicht, ja, sogar der nördlichste Punkt des ganzen Landes. Gleich darüber fing Kanada an. Aber noch immer ging ich vertrauensvoll davon aus, dass Erwachsene manchmal seltsame Dinge tun, die sich am Ende als richtig herausstellen, und danach wird sich schon jemand um einen kümmern. Das ist eine verrückte Vorstellung, und sie hätte mir schon damals verrückt vorkommen müssen, nach allem, was in unserer Familie vorgefallen war. Aber ich hatte das Gefühl, mich lediglich nach dem zu richten, was meine Mutter für mich und auch für Berner geplant hatte. So wie ich gestrickt war, brauchte ich nicht mehr.
    In Havre – tatsächlich am Fuß eines langgezogenen Berges gelegen, neben den Anlagen der Great-Northern-Railroad, einem schmalen braunen Fluss und einer Klippenkette, die auf der Nordseite am Highway entlanglief – musterte mich Mildred und befand, ich sähe zu dünn und kränklich aus, und anämisch sei ich wahrscheinlich auch, ich solle lieber etwas essen, denn wer weiß, wann ich an dem Tag noch etwas kriegen würde. Mildred war eine massige, autoritäre Frau mit eckigen Hüften, kurzen schwarzen Locken, hellwachen kleinen dunklen Augen, rotem Lippenstift, einem Specknacken und Puder im Gesicht, mit dem sie ihren schlechten Teint kaschieren wollte, wenn auch ohne großen Erfolg. Sie und ihr Auto rochen nach Zigaretten und Kaugummi, ihr Aschenbecher quoll über von verschmierten Stummeln, abgebrannten Streichhölzern und Kaugummipapierchen, allerdings hatte sie während der Fahrt bisher nicht geraucht. Laut meiner Mutter hatte Mildred eine schwierige Ehe hinter sich und lebte jetzt allein. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass irgendein Mann sie hätte heiraten wollen (so ging es mir allerdings manchmal auch mit meiner Mutter). Mildred war wuchtig und kein bisschen hübsch und wollte immer alles bestimmen. Sie trug ein grünes Seidenkleid mit einem Muster aus kleinen roten Dreiecken, dazu plumpe rote Perlen und dicke Strümpfe in schweren schwarzen Schuhen, und offensichtlich fühlte sie sich in diesen Kleidern unwohl. Am Seitenfenster hinter ihr hing auf einem Bügel ihre weiße Krankenschwesternuniform mit weißer Haube, das kam mir für sie viel natürlicher vor.
    In Havre fuhren wir bergab zur First Street – der Hauptstraße – und hielten an einem Sandwichladen, gegenüber von einer Bank und dem Bahndepot. Wir setzten uns an den Tresen, ich aß kalten Hackbraten und Weißbrot mit Butter und Pickles, dazu eine Limonade, und gleich ging es mir besser. Mildred rauchte, während ich aß, sah mir zu, räusperte sich ständig und erzählte davon, wie sie auf einer Rübenfarm in Michigan aufgewachsen sei, von ihren Eltern, die Adventisten waren, und ihrem Bruder, der nach Harvard gegangen war (das wusste ich vom Hörensagen), und dass sie mit einem Jungen von der Air Force durchgebrannt und in Montana »gelandet« sei. Der Flieger wurde irgendwann versetzt, aber sie war in Great Falls geblieben, hatte eine Krankenschwesternausbildung gemacht und noch einmal geheiratet, bevor sie endgültig feststellte, dass das nichts für sie war – erst da hatte sie ihren alten Namen Remlinger wieder angenommen. Sie sagte, sie sei dreiundvierzig. Und ich hatte sie auf sechzig oder noch älter geschätzt! Irgendwann drehte sie sich auf ihrem Hocker um, zwickte mir ins Ohrläppchen und fragte mich, ob ich mich fiebrig fühlte oder meinte, da sei was im Anzug. Ich verneinte, aber aufgeregt, wo wir hinführen, sei ich schon. Sie sagte, nach dem Mittagessen solle ich ruhig auf der Rückbank schlafen, und erst daraus schloss ich, dass wir an dem Tag nicht nur bis Havre fuhren.
    Es ging gen Norden. Wir fuhren über ein Holzviadukt, das die Bahngleise und den schlammigen Fluss überspannte, dann über einen schmalen Highway, der sich an der Klippenwand emporschwang, gerade hoch genug, um mir einen Blick zurück auf die Stadt zu eröffnen, die tief unten trist und karg unter dem herabbrennenden Sonnenlicht lag. So weit nördlich war ich noch nie gewesen, und plötzlich erfüllte mich ein Gefühl von Leere und

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