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Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
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nicht genau, was es wird«, sagte sie. »Aber egal was, es wird eine Tragikomödie. Du sollst mir nachher sagen, was du davon hältst. Du bist ein kluger Junge.«
    »Hast du eine Bank überfallen?«, fragte Berner. Darauf reagierte unsere Mutter nicht. Der Hilfssheriff führte Berner und mich von ihrer Zelle weg, damit sie in Ruhe mit ihrem Anwalt reden konnte. Sie würde nicht mehr lange dort sein. Ich habe sie nie wiedergesehen, was mir allerdings damals nicht klar war. Hätte ich es gewusst, hätte ich bestimmt mehr gesagt als in jenem Moment. Es tat mir leid, dass Berner sie nach der Bank gefragt hatte, denn es war ihr vermutlich peinlich.
    Auf dem Weg nach draußen kamen wir noch einmal an der Zelle vorbei, wo unser Vater saß. Er lag auf der kaputten Pritsche in seinen Socken, hielt einen Stapel Papiere in der Hand und las. Wir müssen ihm wohl durchs Licht gegangen sein, denn er drehte sich um, setzte sich halb auf und starrte uns an. »Okay?«, fragte er und wedelte mit den Papieren in unsere Richtung. »Habt ihr eure Mutter gesehen?« Der Hilfssheriff schob uns weiter voran.
    Ich sagte: »Jawohl, Sir«, als wir an seiner Zellentür vorbeikamen.
    »Das ist ja gut. Ich weiß, dass sie sich darüber gefreut hat«, sagte er. »Habt ihr gesagt, dass ihr sie liebhabt?«
    Ich hatte es nicht gesagt, hätte es aber tun sollen.
    »Haben wir«, sagte Berner.
    »Na bitte«, sagte er.
    Zu mehr war keine Zeit. Ich habe oft gedacht – da ich auch ihn nie wiedersah –, dass das besser war, als die Wahrheit auszusprechen.

38
    Wie unbedeutend wir waren und was für ein Ort Great Falls war, lässt sich gut daran ablesen, dass keiner kam, um nach uns zu sehen oder uns abzuholen und an irgendeinen sicheren Ort zu bringen. Kein Jugendamt. Keine Polizei. Kein Vormund, der die Verantwortung für unser Wohlergehen übernahm. Niemand durchsuchte das Haus, während ich dort war. Und wenn das niemand tut, niemand von einem Notiz nimmt, dann geraten Personen und Dinge schnell in Vergessenheit und rutschen weg. So ging es uns. Mein Vater hatte sich in vielen Dingen geirrt, aber was Great Falls betrifft, hatte er recht. Die Leute dort kannten uns einfach nicht. Sie ließen uns bereitwillig verschwinden, sofern wir das wollten.
    Berner und ich nahmen an jenem Montag nicht denselben Weg nach Hause. Wir fühlten uns jetzt anders – wahrscheinlich freier, jeder auf seine Weise. Wir liefen am Postamt vorbei zur Central hoch, dann wieder runter zum Fluss, an den Bars und Pfandleihen vorbei, der Kegelbahn, dem Rexall und dem Hobbybedarf, wo ich meine Schachfiguren und meine Bienenzeitschriften herhatte. Auf der Straße brauste der laute Verkehr. Doch auch jetzt hatte ich nicht das Gefühl, angestarrt zu werden. Die Schule hatte noch nicht angefangen. Wir waren nicht fehl am Platz. Ein Junge und seine Schwester, die durch die sonnige Brise über die Brücke nach Hause gingen, der Fluss darunter süß und faulig an einem Vormittag im August – keiner würde denken: Das sind die Kinder, deren Eltern ins Gefängnis mussten. Die müssen versorgt und beschützt werden.
    Wir blieben in der Mitte der Brücke am Geländer stehen und beobachteten, wie die Pelikane über der Strömung entlangglitten und sich hineinstürzten. Schwäne trieben am nahen Ufer, wo eine dünne Schicht gelber Staub auf der Wasseroberfläche hin und her schaukelte. Wir beobachteten zwei Kanufahrer, die flussabwärts auf den Schornstein der Hütte und die Brücke an der Fifteenth Street zupaddelten. Unterwegs hatte Berner ihre Sonnenbrille getragen und geschwiegen – kein Wort über unsere Eltern. Am Geländer, unter uns der dahingleitende Missouri, hob und senkte sich ihr buschiges Haar im Lufthauch der trockenen Brise, ihre Hände umklammerten die Eisenstange, als könnte die Brücke zu einem Zug werden und davonfahren. Sie wirkte jung, zu jung, um auszureißen und allein zu sein. Wir waren fünfzehn. Aber unser Alter war eigentlich egal. Wir mussten uns der Wahrheit stellen, das Alter spielt dabei keine Rolle.
    Es ist allerdings merkwürdig, was einen dazu bringt, über die Wahrheit nachzudenken. Sie hat so selten mit den Ereignissen des Lebens zu tun. Ich hörte damals eine Zeitlang auf, an die Wahrheit zu denken. Das Kleingedruckte der Wahrheit schien unauffindbar zwischen all den Tatsachen. Falls es eine verborgene Absicht hinter alldem gab, schaffte das Alltagsleben darüber so gut wie nie größere Klarheit. Da war es einfacher, über Schach nachzudenken – das wahre

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