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Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
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Einsamkeit, von Unerreichbarkeit. Wo Berner auch sein mochte, bestimmt ging es ihr besser als mir. Aber ich brachte es nicht über mich, etwas zu fragen, denn mir wurde klar, dass mir die Antwort womöglich nicht gefiele, und danach wüsste ich dann gar nicht mehr, was ich zu meinem Leben sagen oder damit anfangen sollte, ich würde mir eingestehen müssen, dass es ein Fehler gewesen war, nicht mit meiner Schwester wegzugehen (wobei sie mich ja gar nicht gefragt hatte).
    Nördlich von Havre sah das Land genauso aus wie alles, was wir bisher durchquert hatten: trockenes Ackerland ohne Abwechslung – ein Meer aus goldenem Weizen, das mit dem heißen, makellos blauen Himmel verschmolz, dazwischen nur die kreuzenden Stromleitungen. Wenige Häuser oder andere Gebäude ließen darauf schließen, dass hier Menschen lebten oder Strom brauchten. In der weiten, schimmernden Ferne lagen niedrige grüne Hügel. Unwahrscheinlich, dass wir dorthin unterwegs waren, denn ich rechnete sie bereits Kanada zu, und soweit ich mich an den Globus in meinem Zimmer erinnerte, galt das für alles, was uns in dieser Richtung erwartete.
    Mildred war wieder verstummt und konzentrierte sich aufs Fahren. Sie zündete sich eine Zigarette an, aber es schmeckte ihr nicht, sie warf sie aus dem kleinen Seitenfenster. Bussarde drehten in der Luft ihre Runden, wie reglos schwebend. Ich war überzeugt, wenn sich hier jemand verirrte, wären die Bussarde der einzige Hinweis bei der Suche, aber lebendig wäre er nicht mehr.
    Irgendwann holte Mildred tief Luft und atmete wieder aus, als hätte sie einen Entschluss gefasst, von dem bislang noch nicht die Rede war. Sie leckte sich über die Lippen, kniff sich in die Nase und räusperte sich von neuem.
    »Ein paar Dinge sollst du jetzt doch von mir erfahren, Dell«, sagte sie, mit zwei Händen steuernd, die bestrumpften Füße auf den Pedalen, die schwarzen Schuhe hatte sie beiseitegeschoben. Sie starrte geradeaus. Wir waren seit Havre erst zwei Autos begegnet. Wo wir hinfuhren, war kein Ort zu sehen. »Ich bringe dich rauf nach Saskatchewan, damit du eine Zeitlang bei meinem Bruder Arthur wohnst.« Sie sagte das abrupt, als wäre es etwas Unerfreuliches. »Das muss nicht für immer und ewig so sein. Aber im Moment schon. Tut mir leid.« Sie leckte sich wieder über die Lippen. »Es ist der Wille deiner Mutter. Denk nicht, es hätte was mit dir zu tun. Von deiner Schwester bin ich enttäuscht, weil sie weggelaufen ist. Ihr zwei hättet ein gutes Team abgegeben.«
    Sie warf mir ein schwaches Lächeln zu, und im heißen Fahrtwind flatterte ihr kurzes Haar. Sie hatte keine besonders geraden Zähne, und sie lächelte auch nicht oft. Ich kam mir vor, als säße Berner neben mir und Mildred spräche zu uns beiden.
    »Das will ich nicht.« Mildreds Bruder. Kanada. Ich war ganz sicher, dass ich das nicht tun musste. Ich durfte doch wohl mitreden.
    Mildred fuhr eine Zeitlang schweigend weiter, der Highway unter uns schnurrte dahin. Vielleicht dachte sie nach, wahrscheinlich wartete sie einfach nur. »Tja, wenn ich dich zurückbringen muss, werden sie mich verhaften und ins Gefängnis stecken, weil ich dich entführt habe«, sagte sie schließlich. »Dann ist der eine Mensch, der dir helfen kann – der kein erwiesener Verbrecher ist und bereit, deiner armen Mutter einen letzten Gefallen zu tun –, außer Reichweite. Du wirst gesucht, weil du ins Waisenhaus sollst. Mach dir das lieber mal klar. Ich versuche dich gerade zu retten. Und ich hätte auch deine Schwester gerettet, wenn sie nicht so dumm gewesen wäre.«
    Meine Kehle schnürte sich immer enger zu, und diese Enge bohrte sich schmerzhaft abwärts in meine Brust, und plötzlich kriegte ich nicht mehr genug Luft, obwohl wir doch 90 fuhren und der heiße Weizenduft zum Fenster hereinblies. Ich hatte unbändige Lust, mit der Schulter meine Tür aufzustoßen und mich nach draußen auf den vorbeirasenden Asphalt zu stürzen. Was ganz untypisch für mich war. Ich war kein heftiger Mensch und tat nie etwas Unberechenbares. Aber der schwarze Highway schien mein Leben zu sein, das entsetzlich schnell unter mir und von mir wegrauschte, unaufhaltsam. Ich dachte, wenn ich mich nur aufrappeln und losgehen könnte, dann würde ich auch nach Hause kommen, ja, sogar Berner finden, wo immer sie steckte. Meine Finger suchten nach dem Türgriff, packten zu, bereit, ihn mit einem kleinen Zug zu öffnen. Berner hatte gesagt, sie hasse unsere Eltern, weil sie gelogen hätten. Ich

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